Anna Magdalena Bössen, Rollende Rezitatorin

Anna Magdalena Bössen

Ich mache ein Projekt! Eigentlich muss ich wohl nach Berlin, in Berlin macht man doch »Projekte«. Da komme ich aber auch noch hin. Das Projekt hat den Titel »Deutschland, ein Wandermärchen«. Ich fahre mit dem Fahrrad von Ort zu Ort und habe ein Literaturprogramm dabei, das ich das »Kofferprogramm« nenne. Das führe ich auf, wo immer man mich einlädt, gegen Kost und Logis. Ein bisschen wie die alten Geschichtenerzähler oder Bänkelsänger, die früher herumgezogen sind und die Leute unterhalten haben.
Das Ganze geht über ein Jahr, wobei ich im Winter Pause mache. Ich fange im Norden an, dann kommt der Osten, dann der Süden, und der Westen dann Anfang 2015. Genau ein Jahr nach dem Start, am 11. Mai 2015, gibt es im Hamburger Literaturhaus die Premiere des Bühnenprogramms, das ein Resümee dieser Reise sein wird. Wie lang die Winterpause wird, weiß ich noch nicht. Maximal bis Mitte Februar, damit ich noch zwei Monate für den Westen habe. Danach muss ich ja schon fürs Bühnenprogramm proben. Der Grundgedanke von »ich bin total frei und fahre dahin, wo ich will, und sehe mal, was dabei rauskommt«, hat sich dann doch zu einem relativ straffen Unternehmen entwickelt.

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Die ersten zwei Wochen stehen halbwegs fest, bis ungefähr 25. Mai. Wobei es da noch ein paar Lücken bei den Übernachtungen gibt, die ich über Facebook und Couchsurfing zu füllen versuche. Aber ich habe auch nicht den Anspruch, dass ich wirklich jede Nacht gegen Kost und Logis unterkommen muss. Ich glaube, das schafft man auch nervlich gar nicht. Hin und wieder brauche ich auch eine Tür, die ich hinter mir zumachen kann. Das wird dann meist eher eine Jugendherberge sein, manche bieten mir aber auch Hotelzimmer oder Ferienwohnungen an. Da bin ich dann echt froh.
Meine Bankkarten habe ich natürlich dabei. Und ansonsten habe ich meinen Hut. Ich will unterwegs auch Geld generieren, ich will versuchen, sowas zu machen wie die Aktion, die es beim Crowdfunding gab: dass man zum Beispiel ein Liebesgedicht an der Haustür buchen kann, oder ich schreie gegen Geld Namen in den Wind und sowas, das gibt es alles immer noch. Man kann die Reise immer noch unterstützen, man kann mich buchen. Das hat den Vorteil, dass ich dann zum festen Termin wirklich da bin. Ansonsten gibt es kein Recht darauf, denn es kann ja immer mal was passieren. Und es muss von der Strecke her hinkommen.

Anna Magdalena Bössen

Die Termine laufen alle über die Homepage, wo man sich in eine Karte eintragen kann. Dann gucke ich zwei-drei Wochen vorher, wer wo ist, und rufe die Leute an und frage, ob es in dem-und-dem Zeitraum passen würde. So schiebe ich mir das zurecht. Es ist ein bisschen wie Tetris.

Uhr

Ich muss nicht jeden Tag fahren. Es kommt drauf an, was ich zu tun habe. Ich muss ja immer die nächste Zeit planen, und ich möchte auch noch Zeit fürs Schreiben haben. Ich möchte Gespräche führen, Umfragen machen, Interviews führen mit Leuten, die eine interessante Geschichte haben. Das Sportliche ist nicht meine Motivation. Die erste Etappe morgen ist siebzig Kilometer lang – das schaffe ich, aber das schaffe ich nicht jeden Tag.
Ich werde mich aber nicht zwischendurch in den Zug setzen und nach Hause fahren oder so, ich will das schon durchhalten. Der einzige Grund, mit dem Zug zu fahren, wäre ein wirklich wichtiger Auftritt, wo ich hinmuss. Wenn ich weiß, da warten zwanzig Leute in einem Wohnzimmer, dann muss ich halt notfalls den Zug nehmen. Aber Unterbrechen und nach Hause Fahren gilt nicht. Nur in der Winterpause bin ich zu Hause. Meine Wohnung habe ich so lange untervermietet, aber nur bis Ende November.

Anna Magdalena Bössen

Das Kofferprogramm ist vom Ansatz her ein ganz persönliches Programm. Das heißt, mein Thema ist so riesig, so vielschichtig und auch so politisch, dass ich irgendwie einen Weg gesucht habe, das ganz an mich heranzuholen und nicht in irgendeiner Form Position zu beziehen. Ich habe zwar nicht direkt einen Durchlauf durch die Literaturgeschichte, aber ich habe schon klassische Balladen dabei, ich habe Witziges, ich habe ein bisschen was Modernes, ich habe Literatur von Frauen, es ist eine ganz gute Mischung. Aber halt immer zum Thema Deutschland. Meine Grundfrage ist: »Bin ich Deutschland?«
Diese »Du bist Deutschland«-Kampagne damals hat mich eigentlich nicht inspiriert, sondern eher provoziert. Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, warum ich die eigentlich so ärgerlich fand, denn stimmt ja eigentlich schon, dass »Deutschland« aus einem Wir besteht, aus einer Menge von Individuen, die alle zusammen Deutschland ausmachen. Und dann ist mir aufgegangen, dass es daran liegt, dass man niemandem eine Identität zuweisen kann. Man kann nicht zu jemandem sagen: du bist das-und-das. Das muss jeder für sich herausfinden, was und wer er ist und was ihn ausmacht.

Ich gehe in meinem Programm ein bisschen davon aus, was Dichter und Denker über Deutschland sagen, und auch was die Deutschen selber sagen. Das ist echt witzig, weil man ja sagt, die Deutschen würde immer so viel meckern. Und sie meckern tatsächlich unglaublich viel über die Deutschen! Selbst Goethe sagt, die Deutschen sind wiederkäuende Tiere, es gibt wirklich nichts Gutes! Ich habe kein positives Zitat gefunden, außer von Schiller ein bisschen, der glaubt noch an uns. Aber ansonsten …
Voltaire ist der Beste, aber der ist kein Deutscher. Er hat geschrieben: Am Grunde eines jeden Problems sitzt ein Deutscher.
So ein bisschen geht es auch um die Fragen: Gibt es überhaupt so etwas wie »mein Land«? Was bewirkt Dichtung? Wie leidenschaftlich sind wir, oder eben nicht? Und ich hoffe, dass ich unterwegs auch noch Sachen finde.

Gedichtprogramm

Wenn ich gerade nicht durch Deutschland fahre, arbeite ich eigentlich in zwei Bereichen – das macht jeder, der so ausgebildet ist wie ich. Einerseits habe ich den darstellenden Part, und dann den als Trainer oder Coach. Ich habe hier in Hamburg die textouren gegründet, und die laufen weiter. Ich fahre – deswegen war mir das Datum so wichtig, deswegen habe ich es jetzt nicht wegen des Wetters um eine Woche verschoben – ich fahre genau am siebten Jubiläum der textouren-Gründung los. Das ist immer am Hafengeburtstag. Und das neue Vorhaben ist eigentlich auch eine Textour durch Deutschland.

Anna Magdalena Bössen

»textouren« sind literarische Stationendramen hier in Hamburg. Man läuft durch die Stadt, aber die Stadt fungiert als Kulisse eines Theaterstücks. Es ist interaktiv, das heißt, die Zuschauer sind immer auch Teilnehmer an der ganzen Geschichte. Geführt wird es von Schauspielern, die immer wieder etwas rezitieren, wenn es ins Thema passt. Die Rezitationen sind eingeflochten, »textour« kommt auch vom Verweben verschiedenster Stilmittel. Da gibt es zum Beispiel die Kriminachtwanderung »Tief gesunken«, die ist am Bekanntesten. Die Geschichte handelt von einer Witwe, die macht mit ihren Gästen einen Trauermarsch durch den nächtlichen Hafen und erzählt immer von ihrem Kapitän Jan, der in der Elbe ertrunken ist. Und »ach, wie schön war er« und große Liebe. Und dann gibt es einen Kommissar, der sagt: hier stimmt doch was nicht, helfen Sie mir. Die Zuschauer müssen sich dann irgendwie positionieren. Idealerweise helfen sie, den Fall aufzuklären, das machen manche aber auch gar nicht. Es gibt immer wieder Zuschauer, die sich einfach nur den Hafen angucken und sich die Literatur anhören und sich amüsieren. Und es gibt welche, die gern ganz nah dran sind, die der Witwe quasi immer am Fuß kleben und sie mit Fragen bombardieren. Das ist ganz unterschiedlich.
Wir haben eine Bürokraft und einige freiberufliche Schauspieler. Insgesamt sind wir ungefähr zehn Leute, wobei vier oder fünf wirklich regelmäßig spielen.

Ich habe mich sehr gefreut, dass das Literaturhaus mit mir kooperiert und ich da die Premiere machen kann. Man braucht bei so einem Projekt starke Partner. Das Geld aus dem Crowdfunding geht im Prinzip schon für die Homepage drauf. Weil da die Karte drauf ist, die Route, das Interaktive, jeder kann etwas eintragen, alles ist schön gestaltet, Bilder wurden freigestellt, Flyer entwickelt und so weiter. Wenn man das schön haben will – und man muss es schön haben, damit die Leute einen unterstützen – dann ist das Geld ganz schnell weg.

Schuhe

Ich habe schon länger darüber nachgedacht, wie es weitergehen soll. Ich wollte gern ein Bühnenprogramm machen, ich wollte ein bisschen raus aus diesem Alltag – bei textouren hat das Drumherum viel mehr Raum eingenommen als die eigentliche Literatur oder die Beschäftigung damit. Der Ticketvertrieb und sowas hat neunzig Prozent ausgemacht. Und das, was mir Spaß gemacht hat, die Konzepte zu entwickeln, hat am Ende nur noch wenig ausgemacht. Da habe ich schon länger gedacht, ich brauche mal wieder etwas Kreatives. Irgendwas, was mir entspricht. Und ich hatte ein starkes Bedürfnis danach, unabhängig zu sein. Dass ich machen kann, was ich möchte. Keine Mitarbeiter, kein gar nichts, nur ich. Und dann dachte ich, jetzt noch mal lostingeln, ein Programm machen, das überall verkauft wird … nee, ich will einfach los, ich will weg.
Und dann dachte ich: das stimmt gar nicht. Weg will ich eigentlich nicht, ich will überhaupt nicht ins Ausland. Und so habe ich das wochenlang hin- und hergeschoben, habe mir auf dem Flipchart Sachen aufgeschrieben, und dann gab es so einen Moment, wo ich mit dem Fahrrad auf dem Deich stand und auf die Elbe geguckt habe, und dann ging es ganz plötzlich klick-klick-klick-klick-klick. Wie so ein Ineinandergreifen verschiedenster Dinge, und auf einmal war es da. Ich hatte den Titel, ich hatte das Konzept, wirklich innerhalb von Sekunden. Das finde ich abgefahren: wieviel Arbeit man reinstecken muss, damit sich dann innerhalb von Sekunden etwas zeigt. Als wäre ich stundenlang durch Wüstensand gekrochen, und auf einmal war ich am Meer.

Elbdeich

Angst habe ich nicht. Angst habe ich noch am ehesten vor körperlichem Versagen. Und vor platten Reifen. Ich habe eine kleine Probetour gemacht. Ich weiß, ich muss aufpassen. Ich kann nicht gut mehr als dreimal hintereinander bei fremden Leuten sein und auftreten. Mehr schaffe ich nicht, dann brauche ich eine Pause. Das ist aber eher eine Sorge als eine Angst, und das ist ja eine Frage des eigenen Rhythmus’.
Einsamkeit ist sicherlich etwas, was auf Reisen immer dabei ist, aber das macht auch den Reiz aus. Dass Freiheit einerseits und Einsamkeit andererseits in der Waage bleiben, ist eine Sache von Millimetern. Da bist du hier voll in der Freiheit und Unabhängigkeit, und plötzlich zack! fühlst du dich einsam. Es kann aber auch wieder zurückkippen. Das mag ich eigentlich.
Was mir fehlen wird, sind die Freunde. Denen ich nicht immer das gleiche erzählen muss, denn unterwegs werden ja alle immer die gleichen Fragen stellen. Wie sind Sie denn darauf gekommen und so. Dafür habe ich schon eine Art Ausweg, ich will nämlich eine Umfrage machen, und da sind auch viele offene Fragen drin zum Thema Deutschland und Identität. Wenn ich den Leuten als erstes den Rechner hinstelle und sie frage, ob sie das vielleicht beantworten würden, dann müssen sie sich wirklich Gedanken machen. Das ist mein Plan, damit man von diesem Smalltalk-Geplänkel weg und zum Thema kommt. Ob das funktionieren wird, werde ich sehen.

Fahrrad

Wenn ich eingeladen werde – das ist natürlich total nett gemeint, erstmal Kaffee trinken, dann der Auftritt, und dann sind noch Freunde da zum Essen – dann ist das für mich im Prinzip ein durchgehender Auftritt von 16:00 bis 23:00 Uhr. Das ist anstrengend. Ich habe aber auch Einladungen von Leuten, die sagen, Du kannst hier einfach übernachten und die Tür zumachen, wir brauchen keinen Auftritt. Aber die meisten wollen natürlich, dass ich auftrete. Was klar ist, denn das ist ja der Reiz daran, wenn man sich so jemanden einlädt.

Mein erklärtes Ziel hier im Norden ist es, alle Inseln zu betreten. Helgoland muss ich mal gucken, da müsste ich die Fährfahrt irgendwie zusammenkriegen. Zugfahren darf ich ja nicht, außer im Notfall, aber Schiff darf ich fahren. Und vielleicht kann ich mal trampen, also bei Privatseglern mitfahren. Ich kann natürlich auch auf dem Schiff auftreten. Örtliche Hemmungen habe ich durch die jahrelangen textouren überhaupt nicht mehr, mir ist es total egal, wo ich rezitiere. Es ist nur wahnsinnig anstrengend. Inzwischen finde ich, eine Bühne ist wirklich Luxus, ohne Nebengeräusche, ohne Wind und Wetter … andererseits gibt mir das aber total viel. Dieses Draußenrezitieren hat mich von Anfang an gekitzelt.

Ich bin ausgebildet als »Sprecher und Sprecherzieher«, wie der Studiengang damals hieß, Hauptfach Rezitation. Ich sage immer, ich bin Diplom-Gedichtesprecherin, da kann man sich wenigstens was drunter vorstellen. Das studiert man in Stuttgart an der Musikhochschule. Die deutsche Hochlautung und die Kunst der Rezitation sitzen im tiefen Schwabenland. Es ist ein ganz kleiner Studiengang, sie bilden im Jahr ungefähr zehn Leute aus.
Man kann damit zum Radio gehen, man kann Trauerredner werden, das macht ein Kollege von mir gerade, alles mögliche. Man kann natürlich Leute trainieren, Menschen in Sprechberufen von Priester bis Tagesschau. In die Logopädie geht es nicht – wir kennen zwar die größten Stimmstörungen, aber wir können nicht therapieren. Will ich auch gar nicht. Nein, es geht mehr um »wie stehe ich authentisch vorne« und sowas. Das habe ich auch eine Weile gemacht, dass ich gecoacht und trainiert habe, und das werde ich sicherlich weiterhin machen.

Stiefel

Das Schönste am Studium war natürlich die Rezitation. Das hat mir wirklich viel Freude gemacht, macht es heute noch. Ich vermisse das richtig. Manchmal hat man monatelang an einem Gedicht herumgebastelt, bis es wirklich saß. Bei manchen Gedichten ist ja eine ganze Welt in einer Zeile, und die muss man dann denken, die muss man greifen, in so einem Moment. Man hat halt nicht eine ganze Bühne und ein Kostüm, sondern man hat nur die Sprache und die eigene Vorstellungskraft. Das erfordert so viel … so eine schöne Konzentration, und ich finde: es bildet. In Richtung Weisheit, nicht in Richtung Wissen. Und das will ich wieder mehr machen.

Mülleimer

Die Figur, die man im Studium lernt, ist »Der Erzähler«. Und den gibt es kaum noch. Der Erzähler, der natürlich in alle Figuren ansatzweise reingehen kann, aber wir spielen die Figur nicht, wir sind keine Schauspieler. Der Erzähler hat einen ganz schönen Blick, der den Text ganz schlicht dastehen lässt.

Natürlich bucht niemand eine Rezitatorin. Bei den textouren denke ich mir dann irgendein Beiprogramm aus. Bagels und Bier etwa bei »Tief gesunken«, darüber rechtfertigt sich dann der Preis. Für ganz viele Menschen ist das so! Wenn ich sage, es gibt auch was zu essen, dann kommt: ach so, jaja, dann!
Hochzeiten sind so eine Gelegenheit, wo Privatleute einen mal buchen. Ansonsten nur noch die Kirchen, glaube ich, die auch halbwegs anständig bezahlen. Lesungen kann man natürlich auch machen.

Fahrradlenker

Für Kinder, in Schulen oder so, zu rezitieren, das wäre schön. Das habe ich auch schon gemacht, aber das wurde vom Literaturhaus bezahlt. Sonst ist es finanziell kaum zu machen. Dabei finde ich das total wichtig, denn diese Gedichtanalyse im Unterricht und wie da mit Literatur umgegangen wird, ich finde, das zerstört. Wer ein Jahr lang Gedichtanalyse gemacht hat, der will doch nie wieder ein Gedicht lesen. Aber Kinder lieben das Vortragen! Einmal habe ich fürs Literaturhaus eine Tour mit Kindern gemacht, das war das Rührendste, was ich je erlebt habe. Die haben zwar immer reinge… die haben mitgeredet! Die haben wirklich kommuniziert, das hat mich sehr gerührt. Ich hätte längst eine textour für Kinder im Programm, aber das kann ja keiner zahlen. Eine textour kostet 59,- €, und dann für Kinder? Das zahlt keiner. Klar, man kann natürlich ein kleineres Programm machen, aber mehr als fünf bis zehn Euro will niemand dafür ausgeben.

Fahrradsattel

Am meisten freue ich mich auf die Begegnungen. Auf die Menschen, die ich treffe, auf die Geschichten … letztendlich auf das Abenteuer. Ich kann ja noch gar nicht sagen, auf diesen Moment freue ich mich besonders, weil ich noch gar nicht weiß, was kommen wird und was ich erleben werde. Aber das Abenteuer ist es schon. Deswegen mache ich das ja! Und auf das Schreiben. Dafür mache ich es auch, dass ich mal ein bisschen Zeit habe, mich hinzusetzen und zu reflektieren. Ich bin über die Zeit immer mehr zum Schreiben gekommen und habe da richtig Lust drauf.

Aufgeregt? Ach, ich bin so eine Mischung: Oberflächlich bin ich einfach nur noch erschöpft, weil jetzt so unglaublich viel zu tun war. Und morgen die erste Strecke ist richtig lang, nach Elmshorn. Ich fahre außen rum um Hamburg, das sind siebzig Kilometer. Über die Elbe, Zollenspieker … Vorher ist noch gut zu tun, weil das Fernsehen kommt, der NDR für die Sendung »DAS!«. Da muss ich was abliefern. Am Mittwoch kommen sie nochmal nach Brokstedt, wo ich dann bin, und morgen filmen sie die Abfahrt und ein paar Szenen am Deich. Sie haben das Kamerateam bis vier Uhr, aber wann soll ich denn dann in Elmshorn sein? Um zwölf? Davor graut mir. Eigentlich wollte ich gleich nach dem Frühstück los. Aber die kommen erst um halb zwölf. Das macht mich aufgeregt.

Anna Magdalena Bössen

Ich habe das Fahrradfahren richtig trainiert, bis vor ungefähr sechs Wochen. Dann hatte ich so viel Arbeit, dass ich überhaupt nicht mehr dazu gekommen bin. Das ist natürlich richtig blöd. Ich hoffe, es ist noch was von dem Trainingseffekt übrig.
Ich habe ein gutes Tourenrad. Damit habe ich mich sehr auseinandergesetzt, wie dieses Tourenrad und ich denn aussehen sollen. Ich reise ja nicht einfach nur herum, sondern es ist letztendlich von vorne bis hinten ein Komplettauftritt. Das heißt: von der Satteltasche bis zum Helm muss das alles Ton in Ton sein. Alles muss fotogen sein. Es ist alles ein bisschen im Retrostil, was ich echt mag. Das, was ich da tue, ist im Prinzip auch retro, von Ort zu Ort tingeln und Gedichte sprechen.

In meinem Gepäck ist mein Bühnenoutfit – ich habe diesen gelben Koffer, der kommt mit auf die Reise und der kommt auch mit auf die Bühne, und da drin ist mein Bühnenoutfit – und damit ist er auch schon voll. Das Bühnenoutfit ist so retro-fahrrad-wandermäßig.

Koffer

Fahrrad

Dann habe ich links und rechts noch eine Packtasche. Ich habe eine Kluft für warm, eine Kluft für kalt, und für Regen habe ich heute nochmal nachgerüstet. Echt wahr. Ansonsten habe ich versucht, mich zu reduzieren. Ich habe natürlich den Laptop dabei und mein Telefon, was gleichzeitig mein Navi und meine Kamera ist. Statt Büchern habe ich einen E-Reader. Es ist wirklich nicht viel Zeug. Das einzige, was ich mir jetzt noch geleistet habe, ist ein Seideninlay, dann kann ich jede Nacht in so einem Seidending schlafen. Mein kleines Zuhause aus gelber Seide.
Aber ich habe halt nur wenig Platz, und den mache ich voll. Wenn er voll ist, ist er voll. Rechts und links eine Packtasche, der Koffer oben drauf, dazwischen noch einen kleinen Sack, und das war’s. Das ist nicht viel.

Manchmal fragen Leute, kann man denn mit Rezitation Geld verdienen? Und dann frage ich: Was zahlst du mir denn? Dann sage ich ein Gedicht, und dann wollen sie hinterher den Euro nicht zahlen. Das mache ich auch unterwegs »ein Euro, ein Gedicht«. Für einen Euro gibt es natürlich nur ein kleines Gedicht. Wobei es bei Gedichten natürlich überhaupt nicht um die Länge geht. Der künstlerische Anspruch ist bei etwas Kurzem ja nicht kleiner.

Anna Magdalena Bössen

»Am meisten freue ich mich auf die Begegnungen. Auf die Menschen, die ich treffe, auf die Geschichten … letztendlich auf das Abenteuer.«

Homepage: Ein Wandermärchen

10 Kommentare

  1. Großartig, sowohl dieser Text hier als der auch der Eintrag in Anna Magdalenas Blog, der mit dem ausschlaggebenden Telefonat. Wir hier im Westen könnten derzeit auch etwas mehr Sonne vertragen, aber wenn ich sie sehe, werde ich sie nach Nordosten schicken. Da wird sie noch dringender gebraucht.

  2. Tolle Sache! Habe mir erlaubt, das gleich mal breit zu streuen! ;-)

  3. wunderbar, dieser beruf, das unterfangen, diese wagnis, die zweifel und die vorfreude. toll berichtet ist es auch, wie man sich wochenlang das hirn martern kann – dann nimmt das fahrrad, fährt an die elbe und in sekunden setzt sich das puzzle ganz von selber zusammen.
    tolle frau und schöner text.

  4. Supersache – und super Stiefel da auf der Pedale!

  5. Mit gefallen immer wieder die Fotos zu den Beiträgen. Da ist jemand am Werk, der sein Handwerk versteht. Weiter so!

  6. Herzlichen Dank :-)

  7. Eine Vergnügen zu lesen/zu sehen und eine stille Freude darüber, dass es immer noch Menschen gibt, die sich wie Anna umtun.

  8. ….ich wünsche Anna Magdalena, dass sie immer ein Bett und eine Mahlzeit bekommt und auch Hilfe, wenn sie sie braucht. Und damit sie auch das leisten kann, was sie möchte, wünsche ich ihr ab und zu eine ruhige Unterkunft ohne viele Fragen. Habe mich um Auftritte »im Westen« bemüht, auch wenn das noch lange hin ist und werde mich während der ganzen langen Wartezeit darauf freuen und neugierig die Berichte und Kommentare verfolgen.
    Ich fange jetzt mal mit dem Freuen an!
    Bis denne…

  9. Ich habe Anna Magdalena in den Sonntagsfragen gehört und bin total begeistert von ihr.Aber die Chance ,dass sie in den Westen Aachen kommt ist wohl gering? Bett und Essen haben wir und zuhörer auch.Vielleicht klappt es im nächsten Jahr? Jedenfalls viel Glück und Erfolg aus Aachen

    • Der Westen kommt ja auch noch dran – am besten auf der Karte auf Anna Magdalenas Webseite eintragen oder dort nachfragen.

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