Saša Stanišić, Schriftsteller
Im Moment habe ich sehr viele Lesungen. Im Mai ging es los, da war ich vierzehn Tage unterwegs, jetzt im Juni auch, blöderweise auch während der WM. Eigentlich gucke ich jedes Spiel, auch wenn Außenseiter gegeneinander spielen. Das fällt dann leider weg. Das geht so bis November, ich bin konstant auf Reisen. Da freue ich mich drauf!
Das Herumfahren zu den Lesungen ist toll. Ich finde es total schön, mit Leuten über das Buch zu reden, weil ich so lange allein daran saß. Und ich bin eine Rampensau, ich stehe wirklich gern auf der Bühne. Im Moment tut es mir auch noch gut. Und ich bin gerne in anderen Städten! Sowas wie Augsburg oder Ulm, so Orte, wo man normalerweise nicht unbedingt hinfährt. Meistens fahre ich früh morgens los und komme dann so an, dass ich drei, vier Stunden Zeit habe, um mir eine Stadt anzugucken. Und am nächsten Tag geht es weiter in die nächste Stadt. Das finde ich schön. Ich versuche, in jeder Stadt zu laufen, das ist so ein Ritual geworden. Eine halbe Stunde, Stunde. In kleinen Städten geht das gut, du rennst einfach los und weißt genau, in zwanzig Minuten bist du im Grünen. In größeren Städten erkundige ich mich an der Rezeption oder frage meine App, wo ist ein Park, wo ist es grün, wo ist ein Fluss. Da gibt es meistens was. Das ist wirklich schön, man kommt an, ist sowieso ein bisschen fertig von der Fahrt, dann freu ich mich immer schon darauf.
Und ich mag die Gespräche mit den Leuten, die sind immer interessant. Beim Soldaten waren die Gespräche einander viel ähnlicher: was ist daran autobiografisch, wie reagiert die Familie, wie ist das mit dem Politischen. Da hat sich viel wiederholt. Aber bei diesem Buch jetzt ist es erstaunlich vielfältig, was die Leute wissen wollen. Weil es vordergründig nichts mit mir zu tun hat. Da braucht man die Frage nach dem Selbsterlebten nicht zu stellen. Oft kommen Fragen zur Recherche. Und die Leute suchen sich jetzt gern eine Figur aus und fragen: warum der Fuchs, warum die Natur, was haben die Seen damit zu tun, es ist immer etwas anderes. Das macht echt Spaß, und deswegen wird es auch nicht öde, weil es für mich spannend bleibt: was kommt jetzt wohl?
Manchmal kommen auch Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Da bin ich dann ehrlich und sage: ich weiß es nicht. Keine Ahnung, warum ich was wie gemacht habe. Es ist mir so eingefallen, und ich fand es ganz geil, da habe ich es aufgeschrieben. Das ist vielleicht ein bisschen unbefriedigend, aber andererseits freuen sich die Leute, weil sie denken, dass da viel mehr Planung drinsteckt.
Bevor ich die Idee zu dem Dorf hatte, gab es die Idee einer jungen Frau, Anna, die sechsmal wiedergeboren werden sollte, in sechs verschiedenen Zeiten. Auch da war schon der Gedanke angelegt, die geschichtliche und die soziale Wirklichkeit den gleichen Dorfes den Zeiten und Umständen entsprechend zu beschreiben. Das war der Ursprung, der Kern. Und in dieser einen Nacht – es war immer klar, dass es nur eine Nacht sein wird – wachen die fünf anderen in der Gegenwarts-Anna auf und begleiten sie durch die Nacht und erzählen ihr die alten Geschichten. Und sie hört zu. Und der Leser auch. Das war der ursprüngliche Plan. Davon bin ich aber während des Schreibens abgekommen, von den sechs Annas ist nicht viel geblieben. Irgendwann hatte ich das Gefühl, je älter die Zeit wurde, desto weniger konnte ich mir vorstellen, desto weniger konnte ich aufs Papier bringen, weil ich die Bilder dazu nicht hatte.
Ich hatte schon 120 oder 130 Seiten, die ich dann verworfen habe. Aber ich hatte ja nicht nur geschriebenen Text, sondern auch das Material, das ich recherchiert hatte. Durch diese intensive Recherche in der Vergangenheit und in der Gegenwart ist dann dieses Dorf entstanden. Das Dorf ist geblieben, und Anna gibt es auch noch, die Geburtsgeschichte habe ich jetzt ins Blog gestellt. Das war der ursprüngliche Anfang. Das Dorf zu beschreiben war dann leicht, weil ich nicht mehr nachlesen musste und viele Figuren schon im Kopf hatte. Ich bin hin und wieder mal hingefahren und habe ergänzt und die Geschichte neu geschrieben.
Das Dorf ist geblieben, und die eine Nacht als erzählte Zeit ist geblieben. Es geht aber ziemlich in die Tiefe, das kommt sicher auch aus dieser Grundidee, die Vergangenheit mitzubeschreiben. So hat man trotzdem jetzt einen Einblick in die alten Dokumente und Geschichten.
So viele Seiten zu löschen, ist natürlich nicht einfach. Aber am Ende soll das bestmögliche Buch dastehen. Wenn das davor, diese 120 Seiten, nicht Teile des bestmöglichen Buchs sind, dann fällt es mir nicht schwer, sie über Bord zu werfen. Am Ende sind nochmal vierhundert Seiten rausgefallen. Wenn Du etwas streichst, was dir total gefällt, aber du nimmst es weg, aus irgendwelchen dramaturgischen Gründen, weil es noch eine weitere Insel wäre, ein neuer Protagonist, der in dieser Fülle von Protagonisten einfach einer zu viel wäre, dann hat das meistens nichts damit zu tun, dass du diese Figur weniger magst als andere, sondern einfach damit, dass sie vielleicht zwanzig Seiten mehr Material hat, die du dem Leser nicht auch noch aufbürden willst. Und Figuren rauszunehmen, an denen du vielleicht zwei, drei Monate gesessen hast – die sind ausgearbeitet, der Text ist bereinigt von irgendwelchen Unklarheiten und Ungereimtheiten, der Text steht – das ist echt hart.
Aber es ist schön zu sehen, dass Schreiben so funktioniert: dass man im Grunde diesen Kampf, der ein schöner Kampf ist, nicht entlang einer schlüssigen, von vorne bis hinten erzählten Geschichte kämpft. Zumindest bei mir nicht. Sondern da sind so viele Inseln und Ausflüge. Das Schreiben ist für mich das Erforschen eines Themas. Und daraus ein best of.
Dass es so eine Art Collage geworden ist, hat sich so ergeben. Ich würde gerne mal eine zusammenhängende, von A bis Z chronologisch erzählte Geschichte schaffen, aber mir gelingt das nicht. Beim Soldaten war es auch nicht so.
In den acht Jahren seit dem Soldaten habe ich alles mögliche gemacht. Drei Jahre lang bin ich viel gereist. Ich habe gedacht, Saša, das machst Du jetzt ganz egoistisch und guckst dir mal die Welt an. Ich war fast nur unterwegs, entweder mit dem Buch oder ohne das Buch. Ich habe versucht, Dinge zu machen, die ich später vielleicht nicht mehr machen werde, wegen Familie oder wegen finanzieller Möglichkeiten. Irgendwann kam ich zurück nach Berlin und habe angefangen, journalistisch zu arbeiten. Ich habe viel für Reisemagazine geschrieben, und irgendwann dachte ich: diese Anna-Idee ist reif, und dann habe ich damit angefangen.
Solange mir viel einfällt, habe ich keine Sorgen. Ich hätte Sorgen, wenn mir nichts mehr einfiele. Ich glaube aber nicht, dass das der Fall sein kann, weil ich sehr viel und sehr genau zuhöre und mich für Dinge interessiere, auch viel lese. Ich habe das Gefühl, dass Ideen niemals ein Problem sein werden. Hoffentlich!
Das erste Buch war eine Notwendigkeit. Man hört das ja oft, dass Autoren sagen, sie schreiben aus einem inneren Zwang heraus – das klingt oft etwas bemüht, aber bei mir war es beim ersten Buch wirklich so. Es war keine Überlegung, das zu schreiben, es war eine Notwendigkeit, das musste in irgendeiner Form raus. Bei diesem Buch war es jetzt nicht so, das war eine Überlegung. Die von der einfachen Idee dieser sechs Frauen ausging. Ich hatte auch Lust, wieder etwas Längeres zu schreiben, aber es gab nicht den Drang in mir, diese Geschichten zu erzählen. Sondern ich musste mich hinsetzen und danach suchen, musste in Archiven suchen, mir alles ausdenken.
Meine Beziehung zu Abgabeterminen ist wechselhaft. Man hört ja oft, dass Autoren gedrängt werden. Bei mir wusste der Verlag, dass ich dabei bin, und dann habe ich mich gemeldet, als ich dachte, es wird jetzt was. Sie haben immer wieder nachgefragt, jedes halbe Jahr, hast du was fürs nächste Jahr, bist du so weit, können wir mal sehen? Und irgendwann habe ich gesagt, okay, ich glaube, jetzt ist es so weit. Da hatte ich aber schon das Gefühl, es ist zu schaffen. Am Ende musste ich den Termin dann noch mal um zwei Wochen verschieben. Die Abgabe war eigentlich im Dezember, aber da habe ich gemerkt, dass mir noch so viele schöne Kleinigkeiten einfallen, die ich gerne drin haben wollte. Das klingt nicht viel, aber zwei Wochen sind für den Verlag doch eine Menge, sie konnten dann einige Sachen nicht machen. Die Journalisten haben kein gebundenes Buch vorab gekommen, sondern nur Fahnen, die Werbung musste warten, aber im Grunde war es kein Problem. Wenn ich es um ein ganzes Halbjahr verschoben hätte, dann wäre das etwas anderes gewesen, dann wäre die Vorschau schon gedruckt gewesen und all das.
Teilweise habe ich in den zwei Wochen neun, zehn Stunden dran gesessen und gearbeitet, von morgens bis abends, und ich bin wirklich froh, dass ich mir diese Zeit noch genommen habe.
Was am Ende rausgeflogen ist, fließt jetzt zum Teil ins Blog. Manchmal auch Rechercheergebnisse. Ich will aber auch zwei, drei Sachen, die unvollendet waren, noch zu Ende schreiben. Aber das allermeiste sind Sachen, die es schon gibt, die von mir nur noch eine kuratorische Behandlung bekommen. Ich überarbeite sie noch mal, aber ich schreibe nichts Neues mehr dazu. Ich stelle auch immer mal Fotos rein, und ich habe überlegt, ob ich mal ein Interview reinstelle, das ich geführt habe, aus dem dann eine Figur geworden ist.
Selbstdisziplin ist beim Schreiben natürlich ein Thema. Ich glaube, deswegen fliehe ich immer von zu Hause. Da ist immer Ablenkung. Anderswo, in der Bibliothek des UKE oder hier in der Bar, schalte ich ein Programm ein, Freedom heißt das, das sperrt mich aus dem Internet aus. Das ist meine mechanische Selbstdisziplin. Das Internet ist die größte Ablenkung für mich. Wenn ich kein Internet habe, schreibe ich empirisch gesehen dreimal so viel. Ich schalte es für vier Stunden aus, und dann darf ich eine Stunde lang gucken. Mich für eine kürzere Zeit auszusperren, würde nichts bringen, ich brauche schon eine Stunde, um überhaupt reinzukommen.
In Berlin hatten wir immer so schöne Schreibtreffen mit Thomas Pletzinger und Tilman Rammstedt. Das waren die besten Stunden. Abends, nachdem alle fertig waren, die Kinder waren im Bett, haben wir uns noch mal im Büro getroffen, eine Flasche Wein aufgemacht, hatten uns nichts mehr zu sagen und haben einfach reingehauen. Das waren immer die produktivsten Stunden.
Ich habe auch in Fürstenwerder gelesen, ich bin gerne zurückgekehrt. Die meisten haben sich gefreut, einige haben ein paar Sachen nicht verstanden, weil es im Buch Figuren gibt, die jeder kennt, und andere, die ausgedacht sind. Ich glaube, vielen fällt es nicht leicht zu erkennen, warum ich bestimmte Dinge geändert habe und andere geblieben sind. Das war eine besondere Lesung. Ich wollte auch etwas zurückgeben.
Als ich am Anfang dort hinkam und gesagt habe, ich bin Schriftsteller und möchte über das Dorf schreiben, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Die Leute, die ein bisschen Erfahrung hatten, die dort lebenden Künstler oder Leute, die viel lesen, die konnten schnell etwas damit anfangen. Für die anderen war es eher fremd. Sie haben nicht verstanden, was ich da mache, warum ich mich für sie interessiere, und warum auch banalste Geschichten für mich spannend sind. Erst als ich aufgehört habe zu fragen, als sie sich an mich gewöhnt hatten, als ich mit ihnen einfach da war, kamen die schönen Sachen. Erst dann kam auch die Herzlichkeit und dieser Humor. In der Rolle des Fragestellers war es erstmal eine sehr steife Angelegenheit. Später war es besser, da konnte ich zwei Stunden lang in der Bäckerei stehen, Zeitung lesen, essen, trinken, einfach dort sein und den Gesprächen zuhören, das war toll.
Ich habe mal vorsichtig angefragt, ob irgendjemand sich falsch verstanden fühlt, aber ich glaube nicht. Das war meine Angst, dass ich jemandem unrecht getan habe. So Kleinigkeiten, wie dass der Bäcker bei der Auktion die Bierflasche als Auktionshammer in der Hand hat, das ist ein Detail, das ich mir ausgedacht habe. Ich dachte: Was wird er denken, warum ich das gemacht habe? Ich finde das eigentlich ganz cool, aber vielleicht glaubt er, dass ich ihn als Alkoholiker darstelle und ihm unrecht tue. Oder die Geschichte vom Uwe Hirtentäschel, einem ehemaligen Drogenabhängigen, der geheilt wird oder sich selbst heilt, nachdem er Engel sieht. Das ist eine Geschichte, die er mir erzählt hat, aber ich habe sie total verändert, davon ist nichts geblieben, außer dass es so eine Art religiöses Erlebnis ist. Auch da dachte ich, tue ich ihm vielleicht unrecht, weil ich einen Engel ihn verprügeln lasse? Ich fand die Idee toll, dass der Engel mal nicht durch Berührungen oder so wirkt, sondern einfach sagt: hör auf mit dem Scheiß, und dann gibt er ihm eins mit dem Paddel.
Als nächstes Buch kommen Erzählungen, sieben Stück sind schon fertig, drei schreibe ich bis nächstes Jahr, dann sind es zehn Stück, das ist eine gute Menge. Daran arbeite ich im Moment. Und ich kümmere mich um die Sachen, die sich letztes Jahr während des Schreibens angesammelt haben, organisatorischer Kram, meine Steuer der letzten zwei, drei Jahre, sowas. Ich habe das Gefühl, ich habe mein ganzes Leben letztes Jahr mit Schreiben gefüllt, ich habe sehr wenig für mich gemacht. Sehr wenig Hamburg erforscht, Sachen unternommen, das hole ich jetzt langsam nach. Das Private kommt zurück, und ich genieße es, dass ich auch mal einen Tag nur lesen kann, was im letzten Jahr so gut wie nie vorgekommen ist.
Ich merke, dass es mir guttut, im Schreiben zu bleiben. Egal, ob es ganz kleine Texte sind oder die Erzählungen, das Blog, einfach irgendwas. Einfach Text zu produzieren, finde ich wichtig. Es ist wie Training. Wenn man lange raus ist, ist es umso schwerer, wieder einzusteigen. Deswegen versuche ich, jeden Tag wenigstens ein bisschen, wenigstens eine halbe Seite zu schreiben. Wir haben ein Konzertabo, „die Meisterpianisten“, da nehme ich immer mein Notizbuch mit und schreibe auch da eine halbe Seite, während ich zuhöre, weil das für mich gut funktioniert.
So stressig die letzten Monate waren, so leicht fiel es mir, die Zeit zu nutzen. Die erste Handlung nach dem Frühstück war immer, den Rechner aufzuklappen, und los ging es, da gab es keine Verzögerung. Und zwar gar nicht so sehr, weil ich musste, sondern auch deswegen, weil ich drin war und weil ich den Kopf dafür hatte. Weil ich wusste, das ist meine Figur, die spricht so, die denkt so. Es ist toll, wenn man dann mit denen mitfühlt und mitgeht und jeden Tag bei ihnen ist. Es fühlt sich an, als wäre ich Teil dieser Welt.
Wenn ich den Rechner aufklappe, weiß ich meistens schon, was ich schreiben werde. Die ersten Sätze entstehen beim Frühstück. Ich denke schon beim Frühstück darüber nach, was ansteht, manchmal wache ich auf und bin voll in der Welt. Ich klappe nicht den Rechner auf denke: so, wohin jetzt? Sondern dann ist bereits etwas entstanden. Ich setze mich nicht vor den Computer, ohne zu wissen, was ich schreiben will.
Aber ich plotte es nicht vorher durch, das geht alles stückweise, in Kapiteln. Ich überlege mir, wer spricht, was für einen Sound braucht das, was für eine Figur ist das, welche Biografie hat die, kleine Daten, auch das Aussehen. Aber das große Ganze, das kriege ich nicht hin, das vorher zu planen. Also, ich kriege es schon hin, aber dann verwerfe ich es nach ein paar Tagen wieder.
Wenn ich wissen will, wie jemand spricht, höre ich mir erstmal das Material noch mal an, wenn es eine Figur ist, die auf einer realen Figur basiert, um die Eigenarten des Sprechens imitieren zu können. Wenn ich da nicht fündig werde, wenn Leute noch zu klar sprechen, oder nicht auffällig genug, um daraus eine Charaktereigenschaft zu machen, dann baue ich sie mir, indem ich sie miteinander sprechen lasse. In Dialogen, kleinen Theaterdialogen. Ich nehme eine Figur, die es schon gibt, und von der ich weiß, wie sie klingt und was sie sagt und wie sie denkt, und lasse sie in einem Gespräch mit einer anderen Figur auf Papier agieren.
Vorher überlege ich mir, was in dem Kapitel vorkommen soll und welche Figuren sich treffen. Meistens sind meine Figuren ja alleine. Wenn es zwei sind, die sich begegnen, dann rolle ich das von hinten auf und überlege mir: was ist der Ausgang, wie will ich aus dieser Geschichte rausgehen? Wo will ich hin?
Wenn ich das habe, ist es für mich einfacher zu schauen, wie ich dahin komme. Sollen sich Tier und Mensch treffen, damit das stattfindet? Soll ich wieder einen Einsamen produzieren? Soll Frau Kranz mit Anna zusammentreffen? Wenn mir klar ist, wie ich aus der Geschichte rauskommen will, dann wird mir auch klar, welche Protagonisten da miteinander zu tun haben. Das ist vielleicht der größte Planungsschritt. Mir zu überlegen, wie es ausgeht. Und von da aus geht es dann zurück.
Aber ich kann nicht von vorne bis hinten durchplotten und alles aufzeichnen und so. Das einzige, was ich in der Richtung gemacht habe, als ich ungefähr halb durch war: Ich habe mir vorgestellt, wie das Dorf aussähe, wenn es ein Körper wäre, ein menschlicher Körper. Welche Figur wäre welches Organ. Ich weiß gar nicht, warum ich das gemacht habe, ich hatte einfach Spaß daran, mir zu überlegen: welche Figuren sind die Augen, wer sind die Ohren, wer hört da eigentlich zu. Wer spricht, wer ist die Stimme, wer sind die Glieder. Das habe ich auf zwei zusammenklebende DIN A4-Blätter gezeichnet. Das ist, glaube ich, das größte, was ich mir für das Gesamtbuch überlegt habe. Da hatte ich die Figuren alle und habe darüber nachgedacht, was das für mein Dorf bedeutet.
Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mehr plotten, weil ich das Gefühl habe, es würde die Arbeit vielleicht angenehmer und leichter machen, weil ich mich auf etwas verlassen könnte und Durststrecken vielleicht auch beenden könnte. Weil ich mir den Plan anschauen könnte und dann wüsste: ach, dahin wollte ich. Ich weiß nicht, ob es so ist, aber manchmal denke ich, ich bin zu chaotisch.
Beim ersten Roman bin ich von den Überschriften ausgegangen, die waren so vier Zeilen lang, eine Art Zusammenfassung, das ist ein bisschen barock. Am Anfang habe ich das nur als Hilfsmittel benutzt, aber dann hat es mir gefallen. Und dann habe ich es am Ende noch ein bisschen pointierter formuliert und es stehengelassen.
Die schönsten Momente meiner Arbeit sind die Vollendung eines in sich abgeschlossenen Abschnitts, und dann der erste Schritt nach draußen. Ich behalte Texte nie lange für mich, sondern ich zeige sie immer Leuten. Der schönste Moment ist dann, wenn ich merke, dass es gefällt, dass es ankommt. Wenn ich merke, die Mühe war nicht umsonst, sondern da kommt eine Reaktion, die eher positiv ist. Dann denke ich, okay, es hat sich gelohnt. Oder wenn es eine negative Reaktion ist, die mich aber darauf bringt, wie es besser geht. Das sind die schönsten Momente.
Aber am allerliebsten erfinde ich Geschichten. Schaffe also aus Nichts oder sehr wenig etwas. Man hat nur sich selbst und die eigenen Erfahrungen als Quelle für das Erzählte, hat die Tastatur und das leere Blatt und erfindet zuerst eine Figur, in dem Fall ein ganzes Dorf, und später geht man in die Uckermark und bewohnt dieses Dorf mit den Geschichten und Erfahrungen der Menschen vor Ort.
Mein Dorf ist jetzt da. Das sind die schönsten Arbeiten bei meiner Arbeit: Das Erfinden und das Erschaffen einer Welt, die zuvor nicht existiert hat.
Der Moment, in dem ich das Buch dann in der Hand habe, ist auch schön, aber dadurch, dass das verzögert passiert, hat sich viel schon erledigt. Viel schöner ist: Thomas kommt rein, ich lese ihm zwei Seiten vor und er sagt, das ist geil. Folgendes kannst du noch besser machen, aber ansonsten ist es geil. Das ist toll, dann haben die letzten zwei Wochen sich gelohnt. Klar, nach vier Jahren Arbeit ist es auch super, das Buch in der Hand zu haben. Aber es ist nicht zu vergleichen mit der eigenen Zufriedenheit und mit dem Erfinden von Geschichten.
»Mein Dorf ist jetzt da.«
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Sehr schönes Portrait, das mich für ein paar exemplarische Augenblicke in die Schreibstube des Autors mitgenommen hat. Danke.
Was für ein schön geschriebenes Portrait! Ich habe richtig Lust bekommen mir ein Buch von ihm anzusehen.
Das sind die tollen Momente beim Lesen, wenn man so in einen Text hinein gezogen wird und hofft, dass er noch ganz lange weiter geht!
Danke für diese so persönlichen Impressionen schriftstellerischen Lebens und Schaffens. Auch beim zweiten Lesen ein Genuss! Nun warte ich, bis das Buch bei der Büchergilde erscheint, es ist für den 26. September avisiert. Just dann wollen wir in die Uckermark. Zufall?
Der Blogartikel ist schon lange her, aber ich verdanke ihm mit Vor dem Fest die größte Genusslektüre des Sommers. Seither belästige ich alle Bekanntschaften damit, wie wunderbar dieses Buch ist. Und wer immer noch nicht eingeknickt ist, bekommt es dann zu Weihnachten.