Heiko Kunert, Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg
Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg ist ein Verein, wie der Name schon sagt, und wir sind Mitglied im Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, das ist das übergeordnete, deutschlandweit agierende Pendant, in dem die Landesvereine zusammengeschlossen sind.
Ich fange mal an mit dem Dienstleistungsbereich. Wir sitzen hier im Louis-Braille-Center, wo wir vor allem Beratungen für blinde und sehbehinderte Menschen anbieten. Überwiegend sind das Menschen, die relativ neu mit einer Sehbehinderung konfrontiert sind, das heißt in den meisten Fällen, dass in Folge einer Augenerkrankung das Sehen schlechter wird. Die Menschen haben dann viele Fragen, das fängt an mit: Wie meistere ich meinen Alltag, kann ich noch allein zu Hause wohnen, kann ich noch Zeitung lesen, wie mache ich das mit der Post, wie kann ich einkaufen und kochen. Diese Leute kommen hierher, wir haben ein ziemlich umfangreiches Beratungsangebot für sie. Wenn jemand sagt, er traut sich das nicht mehr zu, weil er alt ist und das Sehen schlecht wird und es allein zu Hause eh schon schwierig war, dann beraten wir auch über geeignete Senioreneinrichtungen. Ein wichtiger Aspekt ist die Sozialberatung, dafür haben wir zwei Mitarbeiterinnen, die darüber informieren, ob man zum Beispiel Pflegegeld beantragen kann, ob man blindengeldberechtigt ist, wie man einen Schwerbehindertenausweis beantragt, sie geben rechtliche Tipps und beantworten auch Fragen wie die nach dem Wohnen.
Blindengeld bekommt man in Deutschland, wenn man dem Gesetz nach blind ist. Gemeinhin stellt man sich ja vor, „blind“ wäre gleich schwarz. Als blind gilt man aber „schon“, wenn man weniger als 2% sieht. Es gibt auch blinde Menschen, die noch erstaunlich viel sehen, nicht nur Licht, sondern auch Farben und so. Wenn Menschen von Kindheit an nur 2% sehen, können sie das oft noch sehr stark ausnutzen. Wer das von außen sieht, würde denken, der kann vielleicht schlecht gucken, aber dass er blind ist, merkt man nicht unbedingt. Das Blindengeld ist ein Nachteilsausgleich und ist dafür gedacht, die Mehrkosten zu decken, die man als Blinder im Alltag hat. Zum Beispiel sind Bücher in Blindenschrift deutlich teurer als normal gedruckte Bücher. Das kann schon mal das Zehnfache sein. Es ist natürlich auch mindestens zehnmal so dick, eher noch mehr. Für einen Harry-Potter-Band, die ja sehr umfangreich sind, kann man schon mal 130,- € hinlegen. Das sind dann auch so fünf, sechs dicke Bücher. Pro Band.
Oder Hilfsmittel – viele werden von Kostenträgern, von Krankenkassen und so bezahlt, aber manche auch nicht. Für so etwas soll man das Blindengeld benutzen. Oder auch, um mobil zu bleiben, sprich: man braucht vielleicht häufiger ein Taxi, weil man sich in fremder Umgebung nicht so einfach orientieren kann. Das Blindengeld ist eine Landesleistung, das schwankt von Bundesland zu Bundesland, sogar sehr stark. In manchen Bundesländern liegt es bei 220,- € im Monat, in anderen bei 600,- €. In den letzten Jahren oder Jahrzehnten stand es auch immer mal wieder unter Beschuss, es wurde immer wieder gekürzt. Ein Bundesland sagt immer gerade, in einem anderen Bundesland ist es niedriger, dann können wir es ja auch kürzen. Da gibt es eine Spirale nach unten. In manchen Bundesländern gibt es auch noch Sehbehindertengeld. Wie gesagt, „blind“ ist man, wenn man weniger als 2% sieht – aber wenn man nun 2,5% sieht, hat man die gleichen Probleme im Alltag, bekommt aber kein Geld. Und deswegen gibt es in manchen Bundesländern auch eine Leistung für Menschen, die unter 5% sehen.
Die meisten Leute, die zu uns kommen, haben keinen Anspruch auf Blindengeld, weil sie noch viel zu gut sehen können. Viele sind dem Gesetz nach nicht mal sehbehindert. Sehbehindert ist man bei weniger als 30%. Viele kommen schon her, wenn sie die Diagnose Makuladegeneration haben. Das haben wir hier ganz häufig, das ist eine altersbedingte Augenerkrankung.
Ein wichtiges Thema, das die Leute beschäftigt, wenn sie herkommen, sind Hilfsmittel. Der erste Impuls, warum jemand sich in so einer Situation Hilfe sucht, ist, dass er eigentlich seine Sehfähigkeit zurückwill. Oder sie erhalten. Das ist natürlich nicht rational, aber psychologisch verständlich. Diese Leute suchen nach allem, was helfen kann. Da sind die Hilfsmittel ein wichtiger Faktor, spezielle Sehhilfen zum Beispiel, besonders stark vergrößernde Lupen, oft kann man auch mit der Beleuchtung noch viel machen, dann gibt es stark vergrößernde Bildschirmlesegeräte, wo man das Schriftgut drunterlegt und es dann auf dem Bildschirm lesen kann. Oder Alltagshilfen wie Notizhefte, die einfach besonders groß sind, und dazu gibt es besonders dick schreibende, schmierfreie Stifte. Das sind alles so kleine Helferlein, die dafür sorgen, dass man noch eine ganze Zeitlang aus der Sehkraft, die man noch hat, das Beste rausholen kann.
Wir haben hier zwei Hilfsmittelberaterinnen und eine Orthoptistin, die zu Sehhilfen berät. Ein ganz großer Teil der Leute ist im Seniorenalter, weil die meisten Sehbehinderungen erst durch altersbedingte Erkrankungen einsetzen. Deswegen haben wir eine Mitarbeiterin, die als Seniorenberaterin beschäftigt ist und Angebote speziell für diesen Personenkreis entwickelt und leitet und durchführt. Die Senioren treffen sich hier zu Gesprächsnachmittagen, insgesamt gibt es jede Woche drei Gruppen; das ist oft schön für die Leute, dass sie regelmäßig einen Termin haben und mal rauskommen und sich mit anderen Betroffenen austauschen können. Sie machen auch Ausflüge, etwa in Museen, bei denen die Führungen dann darauf ausgerichtet sind, dass man als blinder oder sehbehinderter Mensch auch etwas davon hat.
Wir sind also oft die erste Anlaufstelle für Leute. Wir haben aber noch weitere Angebote, wir beraten zum Beispiel auch zu barrierefreiem Internet. Ein Mitarbeiter berät Unternehmen, Webdesigner, Behörden etc. zum Thema barrierefreie Webgestaltung. Und wir haben eine kleine Blindenschrift-Druckerei, in der wir manchmal Sachen im Auftrag drucken.
Das sind so die Sachen, die wir hier hauptamtlich machen. Ich bin hier Geschäftsführer. Die Dame, die uns vorhin so nett den Kaffee gebracht hat, ist meine Assistentin, sie macht auch unser Fundraising. Dann haben wir noch eine Mitarbeiterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und eine Koordinatorin für ein spezielles Projekt, das wir gerade machen, das heißt „Blickpunkt Auge“. Da geht es darum, Angebote für die Personen zu entwickeln, die noch nicht blind oder sehbehindert sind, sondern sich eher als Augenpatienten verstehen, die aber auch schon viele Fragen und Beratungsbedarf haben.
Neben diesen Dienstleistungen hier im Haus gibt es noch einen ganz großen weiteren Bereich, das ist das Ehrenamt. Wir sind ja ein Verein, und das heißt, dass ganz viele Dinge hier ehrenamtlich laufen. Die ganze Geschichte des Vereins kommt aus der Selbsthilfe, das heißt, Betroffene, also blinde und sehbehinderte Menschen, machen etwas für andere Betroffene. Es fängt damit an, dass der Vorstand ehrenamtlich arbeitet, und das setzt sich in alle Bereiche fort, wir haben viele Fach- und Sondergruppen, beispielsweise eine Gruppe von Führhundhaltern, eine Gruppe von blinden und sehbehinderten Diabetikerinnen und Diabetikern, dann eine Gruppe, die sich mit elektronischen Hilfsmitteln befasst und dazu Veranstaltungen für unsere Mitglieder anbietet.
Als Geschäftsführer leite ich das Team hier in Hamburg. Das sind 14 Mitarbeiter hier im Haus, dazu kommt das ehrenamtliche Personal. Die hauptamtlichen Mitarbeiter sind angestellt und bekommen auch ein Gehalt. Dann bin ich unserem Hoteldirektor in Timmendorf vorgesetzt, dort haben wir ein Hotel speziell für blinde und sehbehinderte Menschen, das auf die besonderen Belange ausgerichtet ist, also barrierefrei ist, aber auch einen höheren Personalschlüssel hat, sodass man morgens am Büffet allein zurechtkommt, oder dass man bei Ausflügen begleitet wird. Dann arbeite ich dem Vorstand zu, sprich, ich mache die Vorarbeiten für Vorstandsbeschlüsse und Tischvorlagen. Außerdem mache ich die Vermögensverwaltung, so ein Verein muss ja auch von etwas leben. Wir haben unsere Mitgliedsbeiträge, und wir haben ein paar Immobilien aus Erbschaften, da haben wir Mieteinnahmen, aber wir machen auch viel Fundraising. Der Verein lebt maßgeblich von Spenden und Erbschaften, und an Spenden zu kommen, ist in den letzten Jahren nicht einfacher geworden. Da arbeite ich vor allem konzeptionell. Und dann, was so anfällt, mit den Mitarbeitern zusammen neue Angebote entwickeln, Gespräche mit Behörden oder mit anderen Akteuren zum Thema Barrierefreiheit führen, mit Sozialpolitikern im Gespräch bleiben und so weiter. All sowas mache ich.
Insgesamt hat der Verein gut 1300 Mitglieder. Da es ein Selbsthilfeverein ist, sind das fast ausschließlich blinde und sehbehinderte Menschen. Ordentliches Mitglied kann man nur werden, wenn man dem Gesetz nach sehbehindert oder blind ist. Wir haben auch ein paar sehende Fördermitglieder, aber in unseren Gremien sind nur blinde und sehbehinderte Menschen.
Wir machen natürlich auch viel Lobbyarbeit, den Großteil davon ehrenamtlich. Barrierefreiheit im öffentlichen Raum ist immer ein Thema, wir stehen zum Beispiel eng in Kontakt mit dem HVV, wenn es etwa darum geht, dass Bahnhöfe barrierefrei umgestaltet werden sollen. Oder bei Signalampeln, da haben wir immer ein Vorschlagsrecht.
Diese Dinge klappen auch immer besser, das Thema Inklusion und Barrierefreiheit wird präsenter in den Behörden. Seit Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat, ist Deutschland dazu verpflichtet, inklusiv zu werden. Und das bedeutet eben auch, dass behinderte Menschen bei Themen, die sie angehen, als Experten zu Rate gezogen werden. Jetzt ist gerade die Busbeschleunigung ein Thema, wenn Straßenzüge neu geplant werden, dann kriegen wir die Pläne vorab. Die Herausforderung ist im Moment, das alles ehrenamtlich überhaupt noch zu meistern. Da stoßen wir langsam an unsere Grenzen, und da muss perspektivisch eine Lösung her, dass Leute sich wirklich um das Thema kümmern können, statt es ehrenamtlich so nebenbei mitzumachen. Da ist ja auch eine ganze Menge an Know-How und Zeit nötig, weil man eigentlich ständig irgendwo hingehen müsste, sich die Kreuzung angucken, und dann mit einem Sachverständigen die Pläne besprechen müsste. Wenn ich jetzt einen Plan geschickt bekomme, kann ich damit ja erstmal nichts anfangen, den muss mir jemand erläutern.
Aber zumindest ist die Bereitschaft, uns einzubeziehen, deutlich gewachsen. Es spricht sich langsam herum, dass Barrierefreiheit nicht nur Rollstuhlrampen bedeutet, sondern auch Barrierefreiheit für Menschen mit anderen Behinderungen. Kontrastreiche Gestaltung zum Beispiel, dass man als sehbehinderter Mensch nicht die Treppe runterfällt. Ganz oft gibt es Designentwürfe, wo alles grau in grau ist. Man hat einen grauen Platz und irgendwo eine graue Treppe, und ein sehbehinderter Mensch kriegt gar nicht mit, dass da eine Treppe anfängt. Da macht man eigentlich Markierungen, dass zumindest die erste und die letzte Stufe farblich kontrastreich abgesetzt sind, damit ein sehbehinderter Mensch das auch mitbekommt.
Wir sind auch für die Stadt dafür zuständig, Stimmzettelschablonen für Wahlen herzustellen. Der Wahlzettel hat hier ein Loch, und die Schablone hat auch ein Loch, das muss aufeinanderpassen. Wir sprechen die Unterlagen auch auf CD, damit man den ganzen Stimmzettel einmal komplett hat. Das kriegen wir ja nicht in Blindenschrift alles da draufgedruckt, damit man sich das alles noch mal angucken kann. Als blinder Mensch darf man zwar auch eine Person des Vertrauens bitten, das Kreuz zu machen, oder einen Mitarbeiter im Wahllokal, aber Sinn der Sache ist ja eigentlich, dass man eigenständig wählen kann.
Viele Leute sind erstmal entmutigt – kann man ja auch verstehen, wenn man sehbehindert oder blind wird – und trauen sich gar nichts mehr zu. Man kann sicher nicht pauschal sagen, dass es für jüngere Menschen leichter ist, damit umgehen zu lernen, das ist immer vom Einzelfall abhängig. Aber von der Tendenz her – man kennt das ja, von Fremdsprachen oder so, dass man in jungen Jahren besser lernt als später. Ich zum Beispiel habe die Blindenschrift in der Grundschule gelernt, genauso wie Ihr Lesen und Schreiben gelernt habt, und daher kann ich auch genauso gut lesen wie ihr. Wer das erst im Laufe des Lebens lernt, wird sich in der Regel schwerer tun. Und auch bei der Mobilität ist es so, dass man es in jungen Jahren schneller lernt, aber das heißt nicht, dass es im Alter nicht mehr geht.
Es gibt leider oft die Tendenz der Vereinsamung, dass man gar nicht mehr rausgeht, weil man Angst hat, allein zur U-Bahn oder auch nur zum Kiosk zu gehen. Dann wird man in der Regel sehr abhängig von Hilfe. Wir bieten hier ein spezielles Training für Orientierung und Mobilität an, mit speziell ausgebildeten Trainerinnen und Trainern, die einem beibringen, wie man mit dem Stock geht und wie man sich mit dem Gehör orientiert. Das bieten wir allerdings nicht selbst an, sondern z.B. das IRIS-Institut, das als Mieter bei uns im Haus ist, aber ein eigenständiger Verein. Wenn die Leute dieses Training gemacht haben, hören wir oft – oder erleben es auch, denn dann kommen sie auf einmal wieder hierher – dass das ein großer Gewinn ist, und dass sie davon sehr profitieren. Man kann es also auch im Alter noch lernen, man muss es aber an jeden Einzelnen anpassen: Was kann er noch, was kann er alleine? Es lohnt sich auf jeden Fall immer, Selbständigkeit zu üben.
Man übt in diesen Trainings erstmal an konkreten Wegen, die man schon kennt und regelmäßig geht, aber man lernt vor allem die Grundtechniken, sodass man sich später auch andere Wege erschließen kann. Es fängt an mit der Stocktechnik, das ist ja so ein Pendeln, man pendelt mit dem Stock vor sich her. Dabei muss man eine bestimmte Breite abdecken, damit auch die Schultern gesichert sind, und dann muss man dafür sorgen, dass der Stock immer einen Schritt voraus ist, und dass man immer rechts und links im Wechsel tippt. Das muss man erstmal reinkriegen, man muss es üben.
Dann lernt man, sich mit dem Gehör zu orientieren. Wenn ich an einer Straße entlanggehe, dann nutze ich den fahrenden Verkehr als Orientierung und gehe parallel dazu. Daran kontrolliere ich, ob ich geradeaus gehe. Das muss man auch erst üben. Dann übt man, wie man über Kreuzungen geht. Entweder es gibt Signalampeln, oder, wenn nicht, dann macht man das auch über den fahrenden Verkehr. Bei einer ganz normalen X-Kreuzung bekommen die Fußgänger in der Regel grün, wenn der parallelfahrende Verkehr startet. Auch das muss man erstmal üben, die Haltelinie der Autos wahrzunehmen und zu hören, wann die losfahren. Und dann gerade über die Straße zu gehen. Und Orientierungspunkte wahrzunehmen und zu nutzen. Das kann alles mögliche sein, was man hören oder fühlen kann, mit dem Stock oder auch mit den Füßen. Kopfsteinpflasterauffahrten zum Beispiel bemerkt man, oder Holzzäune, wenn man mit dem Stock dagegen schlägt. Oder akustische Veränderungen, wenn man zum Beispiel unter einer Brücke durchgeht, das kann man hören, weil der Schall sich verändert. Oder wenn da eine Wand ist, das hört man auch. All sowas übt man da, und dafür wird man sensibilisiert.
Es wird immer so vereinfacht gesagt, blinde Menschen könnten besser hören, aber das ist natürlich nicht so. Rein biologisch kann ich nicht besser hören als ihr, aber ich bin es mehr gewohnt, Informationen aus diesem akustischen Kanal zu ziehen. Das gleiche gilt für die Fingerspitzen. Das muss man auch üben, wenn man die Blindenschrift lernt – das bieten wir hier übrigens auch an – das übt man am Anfang oft vergrößert, etwa mit einem Steckbrett. Wenn man anfängt, Texte zu lesen, dann ist der Zeilenabstand erstmal größer, damit man die einzelnen Buchstaben leichter erkennt.
Es ist natürlich nur ein geringer Anteil von Büchern in Blindenschrift zu kriegen. Auch Formulare, Zeitungen, Zeitschriften und so weiter, da gibt es verschwindend wenig. Bei Bestsellern ist die Quote ganz gut, weil die Blindenschriftbüchereien und Druckereien vor allem das produzieren, was auch gelesen wird. Aber sobald es ein bisschen spezieller wird, wird es eng.
Im Studium zum Beispiel, ich habe politische Wissenschaften studiert, gab es die ganze Fachliteratur natürlich nicht. Als ich 1998 angefangen habe zu studieren, habe ich mir die Sachen überwiegend aufsprechen lassen, erst auf Kassette, später auf CD, und habe mir Bücher eingescannt. Es gab an der Uni einen Tutor, der mit mir in die Bibliothek gegangen ist und die Sachen kopiert hat und so. Dann bekam man monatlich eine Summe vom Sozialamt, um sich einen Vorleser oder eine Vorleserin leisten zu können. Für den Großteil des Studiums hat die Summe auch gereicht, und später, in der Endphase des Studiums, musste ich noch ein bisschen was von meinem Blindengeld dazugeben. Meistens waren das andere Studierende, die das als Nebenjob gemacht haben. Es gibt auch einen Aufsprachedienst in Marburg, wo man Bücher hinschicken kann, dann werden sie von semiprofessionellen Sprechern eingelesen.
Es gibt ja permanent erheblichen technischen Fortschritt. Inzwischen sind sogar viele Berufe, die bislang gar nicht denkbar waren, für blinde Menschen durchaus machbar. Ich selbst habe nach meinem Studium noch eine PR-Ausbildung gemacht und dann fünf Jahre lang hier die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit betreut. Dass blinde Menschen PR machen, ist noch gar nicht so lange möglich. Das geht vor allem dadurch, dass Computer überall Standard sind und ein Großteil der Kommunikation auch auf diesem Weg funktioniert. Man kann texten, per E-Mail kommunizieren, sonstwie im Internet kommunizieren, so sind ganz neue Möglichkeiten entstanden.
Die große Errungenschaft der letzten Jahre für blinde Menschen sind die Smartphones, iPhones vor allem, die sind am barrierefreisten. Es gibt immer mehr Apps für blinde Menschen. Etwa eine App, die Geldscheine erkennt. Das braucht man nicht ständig im Alltag, da hat man seine Ordnung im Portemonnaie und fühlt den Rest. Aber auf Reisen zum Beispiel, für ausländisches Geld.
Oder man benutzt das Smartphone als Navigationsgerät, das nutzen immer mehr Leute. Es gibt spezielle Apps, die einem zum Beispiel sagen, welche Cafés in der Nähe sind, gleich mit Richtungsangabe und Navigation, das kann einem vieles erleichtern.
Die ganze Computerarbeit geht im Wesentlichen über die Sprachausgabe. Die synthetische Stimme auf dem Rechner gibt den Bildschirminhalt wieder. Einfach gesagt, sie liest mir die Webseite vor. Ich kann aber auch scrollen oder querlesen; wenn die Seite barrierefrei ist, dann sind die Überschriften markiert. Bei Facebook etwa ist das so. In den Statusmeldungen ist der Name jeweils als Überschriftebene 3 oder sowas markiert, er liest mir also vor: „Isabel Bogdan“, und dann kann ich, wenn ich deine Statusmeldung nicht lesen will, den Buchstaben H drücken, dann springt er zur nächsten Headline. Oder ich lasse mir deine Statusmeldung eben vorlesen.
Man kann in HTML sogenannte Orientierungspunkte hinterlegen, mit deren Hilfe man ein bisschen schneller und einfacher navigieren kann. Auf manchen Seiten funktioniert das gut, auf anderen weniger. Es gibt auch Seiten, da ist gar keine Überschrift ausgezeichnet, da muss man so lange „Pfeil runter“ drücken, bis endlich der Textblock kommt und die Links vorbei sind. Optisch hat man von diesen HTML-Sachen nicht unbedingt etwas, aber für uns sind sie wichtig.
Wenn man ungeübt ist, versteht man von der Sprachausgabe erstmal nicht viel, weil das sehr schnell gesprochen wird, aber das ist eine Frage der Gewohnheit. Ich habe auch nicht so schnell angefangen, man erhöht das Tempo halt mit den Jahren. Hier unten unter der Tastatur haben ich dann noch die Braillezeile, da erscheint zeilenweise das, was gesagt wird, und was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Meistens orientiere ich mich mit einer Kombination aus Sprachausgabe und Braillezeile.
Diese kleinen Papierstreifen sind ein bisschen old school. Die Rollen legt man in dieses Gerät ein, dann kann man mit diesen sechs Tasten tippen, und an der Seite kommt der Streifen raus. Das ist die klassische Blindenschriftanordnung, die Zeichen werden immer aus diesen sechs Punkten kombiniert. Je nachdem, welche sechs Punkte man drückt, ist es ein anderer Buchstabe. Eine normale Blindenschrift-Schreibmaschine, auf der man DIN A 4 schreibt, ist ungleich größer und schwerer, das hier ist verhältnismäßig handlich und leicht.
Früher hat man das im Prinzip als Notizzettel benutzt, als man noch keinen Laptop und so hatte. Ich kenne das noch aus meiner Schul- und Unizeit, und deswegen benutze ich das noch manchmal, um mir Notizen zu machen.
Ich gehe auch allein einkaufen. Aber in der Regel nicht im REWE um die Ecke, weil mir das zu unübersichtlich ist und ich eh bei jedem zweiten Regal Hilfe bräuchte. Ich kann natürlich ertasten, was eine Konservendose ist, aber dann weiß ich nicht, ob Erbsensuppe oder Hundefutter drin ist. Da gibt es auch Apps – wenn man die Geduld hat, kann man das iPhone dranhalten, den Strichcode suchen, und dann sagt er einem, was für ein Produkt das ist. Das kann ganz praktisch sein, wenn man eine große Vorratskammer zu Hause hat, aber in der Praxis im Supermarkt ist es zumindest für mich nichts. Ich kaufe, was nur geht, im Internet. Und wenn ich selbst einkaufen gehe, dann in kleinen Geschäften, wo es noch Bedienung gibt. Und wenn es gar nicht anders geht, gehe ich gern zu Edeka, wo sie einen guten Personalschlüssel haben, sodass sich jemand die Zeit nehmen kann, mit mir da durchzugehen. Es ist aber auch eine Frage des Sich-leisten-Könnens. Es gibt auch Leute, die gehen zu Aldi um die Ecke und wühlen sich irgendwie durch. Das kann ganz schön stressig sein. Teilweise bitten sie auch andere Kunden um Hilfe.
Kochen kann ich auch selbst, ich koche sogar ganz gut, glaube ich. Ich hatte mal einen Koch-Podcast, mit einem Freund zusammen, das war immer ein großer Spaß. Fürs Kochen kann man übrigens auch ein Training bekommen, als blinder Mensch, „Lebenspraktische Fähigkeiten“ nennt sich das. Da lernt man solche Dinge wie kochen, putzen, bügeln, Knopf annähen, die Dinge des täglichen Gebrauchs. Beim Putzen zum Beispiel eignet man sich eine Technik an, dass man beim Saugen keine Ecke vergisst, weil man ja nicht sehen kann, ob man schon gesaugt hat. Da muss man dann systematisch seine Bahnen ziehen.
Oder beim Kochen: dass man den Kochlöffel benutzt, um zu fühlen, wo genau die Herdplatte ist, wenn es denn noch eine Herdplatte in dem Sinn gibt, damit man weiß, dass der Topf richtig draufsteht, ohne sich die Finger zu verbrennen. Oder beim Schneiden, dass man mit den Fingern sozusagen eine Brücke über dem Messer macht, wo man gerade schneidet, damit man sich nicht in den Finger schneidet. All so kleine Kniffe lernt man da. Und dann kocht man halt wie jeder andere auch. Es gibt ein paar Hilfsmittel, ich habe an meinem Herd zu Hause Markierungspunkte anbringen lassen, bei 50, 100, 150, 200 °C, damit ich weiß, wie heiß der Backofen ist, und ich habe eine Küchenwaage, bei der man fühlen kann, wieviel Gramm drauf sind. Ansonsten sieht meine Küche aus wie Eure auch.
Das Problem, unter dem viele blinde und sehbehinderte Menschen leiden, ist aber oft nicht so sehr die Behinderung an sich, denn mit der kann man lernen zu leben, sondern dass die Umwelt sich nicht vorstellen kann, wie das geht. Viele nichtbehinderte Menschen haben aber trotzdem eine Meinung. Und die Meinung ist: die können das alles nicht. Weil man nicht weiß, wie ein blinder Mensch kocht. Weil man nicht weiß, wie ein blinder Mensch im Internet unterwegs ist. Oder wie ein blinder Mensch arbeitet. Oder allein den öffentlichen Nahverkehr benutzt. Da gibt es leider immer noch eine Menge Menschen, die einfach unterstellen, dass das alles nicht möglich ist, oder nicht vollwertig möglich ist. Man schließt natürlich immer von sich auf andere, man macht die Augen zu und stellt sich vor, wie man zurechtkäme. Und so geht es natürlich wirklich nicht! Es ist alles eine Frage des Trainings und der Hilfsmittel.
Es kommt im Alltag immer mal vor, dass mir jemand seine Hilfe anbietet, und ich bin in der Stimmung die anzunehmen, oder ich brauche tatsächlich Hilfe, weil ich mich verlaufen habe, oder jetzt war ich kürzlich im Krankenhaus, da brauchte ich Hilfe bei den Wegen durchs Haus. In der Regel habe ich da auch Vertrauen in die Leute, und bisher ist auch nie etwas Dramatisches passiert. Klar bin ich schon mal gegen ein Schild geführt worden, wenn jemand das noch nie gemacht hatte, und habe mir an der Nase wehgetan. Aber meistens geht es gut, und in der Regel kann man ganz gut kommunizieren, wie das geht.
Kinder sind am unbefangensten. Wenn sie mich auf meine Behinderung ansprechen – das passiert mir ja gefühlt den ganzen Tag, wenn ich draußen unterwegs bin, dann gibt es keinen längeren Weg, auf dem ich nicht angesprochen werde. Meist ist es „kann ich ihnen helfen“. Aber oft werde ich auch direkt auf die Behinderung angesprochen, und wenn es Kinder sind, fragen die einfach, „was hast du denn“ oder „was machst du mit dem Stock“. Einmal hat ein Dreijähriger mit mir geschimpft, weil ich nicht nach links und rechts geguckt habe beim Straßeüberqueren, das fand ich lustig. Da ist so eine Unbefangenheit. Die Fragen der Kinder kann ich natürlich auch nicht immer erschöpfend beantworten, aber mir ist es tausendmal lieber, die Leute fragen einfach, als dass sie sich irgendetwas ausdenken.
Ich mache das niemandem zum Vorwurf, das Problem ist einfach, dass man im Alltag so wenig miteinander zu tun hat. Das gilt nicht nur für blinde Menschen, sondern für alle mit Behinderungen, dass da so wenig Vorstellungskraft ist. Ich glaube, das wird sich in Zukunft ein bisschen ändern, weil die Inklusion an Schulen selbstverständlicher wird. Dann sind die Kinder von früh an gewöhnt, dass es Kinder gibt, die ein bisschen anders sind. Kinder können natürlich auch fies sein, aber trotzdem nehmen sie die Welt erstmal so, wie sie ist, und sie nehmen auch andere Kinder mit Behinderungen als ganz selbstverständlich.
Ich selbst war in der Grundschule auf einer sogenannten „Sonderschule“, das war damals noch üblich. Ich war hier in Hamburg am Borgweg in der Schule für Blinde und Sehbehinderte. Danach bin ich aber „integrativ“, so hieß das damals, auf dem Gymnasium beschult worden. Das war im Großen und Ganzen genau richtig, denn später im Leben ist man ja auch in dieser Gesellschaft von Nichtbehinderten, und da kann man nicht früh genug damit anfangen. Klar gab’s da auch Probleme. Gerade in der Pubertät, wenn Jugendliche sich abgrenzen – „ach nee, der ist ein bisschen komisch, der benimmt sich komisch, mit dem wollen wir nicht so gern zusammen gesehen werden“ – oder auf Klassenfahrten: „Och nee, die Behinderten führen, lass ma“, sowas gab es natürlich auch. Aber ich habe aus der Zeit immer noch einen großen Teil meines Freundeskreises. Das ist auf jeden Fall die richtige Herangehensweise.
Natürlich wird bei der Inklusion noch längst nicht alles richtig gemacht, sie wird zum Teil auch genutzt, um Geld einzusparen, und das ist ein Problem. Aber das Ziel Inklusion ist auf jeden Fall richtig und wichtig. Es müsste nur mehr reingesteckt werden, mehr Geld und mehr Anstrengung. Für mich fängt es schon damit an, dass die Kinder ordentlich die Blindenschrift lernen müssten. Das bleibt ein bisschen auf der Strecke. Einmal, weil immer mehr über diese Sprachausgaben läuft und sie immer früher Computer haben und sich ganze Texte gar nicht mehr selbst erschließen müssen, sondern sie sich einfach vorlesen lassen können. Darunter leidet die Rechtschreibung, das müsste schon in den Klausuren ein Problem sein, aber es ist erst recht später im Beruf ein Problem. Und Lesen ist einfach eine Kulturtechnik, die man draufhaben muss. Wenn man aber als Schüler nur mit Lehrern zu tun hat, die diese Schrift gar nicht können, ist das ein Problem. Dann bleibt das auf der Strecke. Wenn die sogenannten Sonderpädagogen, die einem die Blindenschrift beibringen könnten, zu wenige Stunden haben, dann ist das schlecht. Es wäre wünschenswert, wenn die normalen Lehrer ein paar Grundtechniken draufhätten, aber das können sie auch nicht für alle nur denkbaren Behinderungen leisten. Aber dass wenigstens manche Lehrer Blindenschrift könnten, andere die Gebärdensprache, das wäre schon gut. Man braucht so oder so geschultes Personal. Experten.
Das Tollste an der Arbeit hier im Verein ist immer, wenn man ein neues Angebot entwickelt hat und das dann an den Start geht und gut angenommen wird. Weil man dann ganz konkret Leuten hilft. Ich weiß ja, wie es ist, blind zu sein, und ich erlebe tagtäglich die vielen Herausforderungen, die es da gibt. Ich kann mir schon vorstellen, dass es für Leute, die neu davon betroffen sind, noch viel dramatischer ist. Wenn wir den Leuten wieder Zuversicht und Lebensmut geben können, wenn man etwa mitkriegt, dass sie wieder aus dem Haus gehen, dass sie sich nicht mehr nur noch über ihre Behinderung definieren und definiert fühlen, sondern wieder ihr Leben, ihren Alltag angehen, dann ist das immer großartig. Weil wir mit unseren Angeboten dazu beitragen können. Und toll ist auch immer, wenn wir uns irgendwelche Projekte überlegen, von denen wir wissen, die sind sinnvoll, aber nicht wissen, wie wir sie finanzieren sollen – wenn man das dann doch hinbekommt, zum Beispiel mit Stiftungen oder so, wenn das dann steht, das ist immer ein großes Glück. Oder wenn irgendwelche Themen, die uns am Herzen liegen, auch von der Politik aufgegriffen werden. Ein Beispiel, wo ich aktiv beteiligt war, waren Bildbescheibungen im Theater, wo man über Kopfhörer das Bühnenbild und rein visuelle Geschehnisse beschrieben bekommt. In Hamburg gab es das nicht, in anderen Städten schon. Da haben wir es nach längeren Gesprächen mit Sozialpolitikern hinbekommen, dass das von der Kulturbehörde gefördert wird. Im letzten Jahr gab es die erste Aufführung, dieses Jahr gibt es wieder welche, und wenn man dann im Theater sitzt, und da sind sechzig andere blinde Menschen im Publikum, und die haben alle die Kopfhörer auf, dann weiß man einfach, dass man etwas Gutes geschafft hat und dass die zähen Gespräche sich doch gelohnt haben. Und dann weiß man, dass man das Richtige tut.
»Einmal hat ein Dreijähriger mit mir geschimpft, weil ich nicht nach links und rechts geguckt habe beim Straßeüberqueren, das fand ich lustig.«
Heiko Kunerts Blog findet man hier.
Und hier den Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg.
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Danke.
Großartig! Ich nehme aus den Interviews jedes Mal wirklich viel mit – danke dafür. Und jetzt gucke ich mal nach, ob auf meiner Website die Überschriften ordentlich ausgezeichnet sind.
Danke für diesen sehr informativen Beitrag.
Randbemerkung: Eure Blogeinträge könntent ihr übrigens auch barrierefreier gestalten, indem ihr einfach die Hyphenisation sowie Blocksatz für die Absatz-Tags hinzufügt.
Außerdem erhöht eine Zeilenhöhe von ca. 1.4 – 1.5em die Leserlichkeit ungemein – gilt auch für die Kommentarfelder ;)
cu, w0lf.
Danke sehr, das klingt imposant, und ich verstehe natürlich kein Wort. Leite das aber mal an die Technikabteilung weiter. Die können ja alles.
Was mir zum Thema »Smartphones verbessern die Welt« grad noch eingefallen ist: Eine (blinde) Freundin von mir verwendet eine App namens TapTapSee, um alle möglichen Gegenstände zu identifizieren. Immer mal wieder postet sie (bzw. die olle App) entspr. Einträge in ihrer Facebook-Timeline.
cu, w0lf.
Beeindruckend. Sehr beeindruckend!
Und nicht nur diese Geschichte, sondern das ganze Projekt. Ich finde es ganz, ganz großartig, wie Sie das machen. Und was Sie da machen (da schließt sich der Kreis quasi).
Ich freue mich auf viele weitere tolle Beiträge.
Herzliche Grüße und ein entspanntes Weihnachtsfest,
Nicole
Großartiger Beitrag und meinen allergrößten Respekt. Habe große Achtung vor Ihnen und weiterhin alles, alles Gute.
Mit freundlichen Grüßen, Hr. Achim Morina
P.S.: Meine dargebotene Euphorie ist höchstwahrscheinlich damit verbunden, weil ich generell jedem, der Sozial benachteiligt ist, weiterhelfen möchte