Gesa Füßle, Herzbrückenmutter

Die Herzbrücke ist eine Organisation der Albertinenstiftung. Ein, zwei Mal im Jahr wird eine Gruppe herzkranker Kinder Kinder aus Afghanistan geholt, die dann in Hamburg im Albertinenkrankenhaus von Prof. Rieß operiert werden. Einige kommen auch ins UKE. Die Kinder werden in Kabul von einem in Hamburg ausgebildeten afghanischen Arzt ausgesucht. Er hat wohl immer mittwochs Sprechstunde für die armen Kinder, für umsonst. Der trifft eine Vorauswahl. Sie können dort auch selbst Operationen durchführen, aber natürlich nicht alle. Was genau die Kriterien sind und wer die letzte Entscheidung fällt, weiß ich aber auch nicht.

In der jetzigen Gruppe war das jüngste Kind drei, das ist sehr jung, normalerweise sind sie so zwischen fünf und zehn Jahre alt, weil es bei älteren Kindern schwieriger wird mit der Operation. Da brauchen sie dann schon einen Herzschrittmacher und müssten alle paar Jahre wiederkommen. Bei kleineren Kindern ist das Problem nach der OP für den Rest ihres Lebens weg. In dieser Gruppe waren jetzt sieben Kinder, sie wollen aber dieses Jahr noch mal eine Gruppe holen.

Gesa

Die Gastfamilien haben nicht zwangsläufig Kinder in dem Alter, bei manchen sind die Kinder auch schon mehr oder weniger aus dem Haus. Oft sind sie dann schon seit vielen Jahren Gasteltern und hatten schon sechs Gastkinder oder so. Ich glaube, wenn neue Familien dazukommen, dann gucken sie schon, dass die jüngere Kinder haben.

Ich weiß auch nicht genau, wie sie die Familien aussuchen. Wir sind über eine andere Frau dazu gekommen, die schon dreimal ein Gastkind hatte. Sie wohnt bei uns in der Straße, daher haben wir das immer mitbekommen. Und sie ist sehr gut bekannt mit den ganzen Leuten. Wenn sie sagt, ich habe eine Gastfamilie für euch, dann vertrauen sie ihr auch.

Die Kinder sind insgesamt drei Monate hier. Normalerweise werden sie nach ungefähr vier Wochen operiert und bleiben danach noch zwei Monate. Jetzt wurden die Kinder ungewöhnlich früh operiert, schon nach zwei Wochen. Und dann noch knapp zweieinhalb Monate danach, es sind nicht ganz drei Monate insgesamt.
Die meisten Kinder haben den Klassiker, ein Loch in der Herzscheidewand, das wird mit einem Flicken zugemacht. Bei Mustafa war es aber auch noch eine Verengung der Aorta, da hatte er eine Muskelwucherung, so dass es ganz, ganz eng war. Das mussten sie weiten und neu machen, denn wenn da richtig Druck draufgekommen wäre, dann wäre es irgendwann geplatzt. Wir haben auch erst nach der OP erfahren, dass es vielleicht noch ein paar Monate gutgegangen wäre, aber dann wär’s das gewesen. Theoretisch weiß man natürlich, dass das passieren kann, aber so klar ist es einem dann doch nicht.

Mustafa ist sechs, laut Pass, und kommt aus Logar, das ist mit dem Auto ungefähr anderthalb Stunden südlich von Kabul. Wohl eine einigermaßen grüne Gegend, wurde uns gesagt, sodass er nicht ganz so extrem auf Bäume und sowas reagiert hat wie andere Kinder. Er kommt natürlich aus relativ armen Verhältnissen, sonst wäre er nicht über die Herzbrücke hier. Die reicheren Afghanen können ihre Kinder in Pakistan operieren lassen.
Mustafas Vater kann lesen, was nicht unbedingt immer so ist, und er studiert wohl Pharmazie. Mustafa hat einen Onkel in England und einen anderen zu Hause, der auch Englisch kann. Freitags telefonieren die Kinder immer mit Zuhause, und am Ende sprechen wir dann immer noch mit diesem Onkel und erfahren, was Mustafa erzählt hat und werden gefragt, warum er weint.

Mustafa

Immer freitags zu telefonieren, ist eine Vorgabe von der Herzbrücke. Und das ist auch richtig so. Gerade am Anfang ist das Heimweh relativ groß, und jedes Telefonat ist bei Mustafa herzerreißend. Das war von Anfang an so, und ist es immer noch. Die Telefonate dauern auch schon mal anderthalb Stunden. Nach einer Stunde sagen wir immer, er soll jetzt mal tschüss sagen. Es zieht sich aber auch, weil jedes Familienmitglied mindestens einmal drankommt. Bei vielen anderen, mit denen wir gesprochen haben, reden die Kinder zehn Minuten, und weiter interessiert es sie gar nicht. Bei Mustafa ist das alles sehr dramatisch.

Am Anfang gab es viele Tränen. Jetzt legt er auf, man nimmt ihn nochmal in den Arm und gut ist. Das war am Anfang anders. Freitagabends hat er eigentlich immer geheult. An den anderen Tagen ging es. Die ersten ein, zwei Wochen hat er abends immer geweint. Die ersten Tage hat er auch tagsüber viel geweint, immer so zwei Stunden mit den Kindern gespielt, eine Stunde geheult, da konnte man ihn dann am besten mit DVDs ablenken. Shaun das Schaf war das Allerbeste. Und abends, wenn er müde war, kam das Heimweh. Dann hängt da noch das Foto von ihm und seinem Vater am Bett, und dann flossen die Tränen. Aber jetzt ist alles gut.

Mustafa und Vater

Essen ist natürlich auch so ein Thema. Im Moment isst er mittags zweimal, einmal im Kindergarten, und bei uns dann nochmal. Heute Mittag hat er noch einen ganzen Teller Kartoffeln aufgefuttert. Als er aus Afghanistan kam, hatte er Beutel mit Cashewnüssen und Rosinen und sowas dabei, und am Anfang hat er wirklich nur Cashews gegessen. Wir haben ihm noch Erdnüsse dazugestellt. Und harte Eier hat er gegessen. Und dann irgendwann Nudeln und Kartoffeln, aber Brot hat er gar nicht angerührt, das war ihm suspekt. Obst war am Anfang auch ein bisschen schwierig. Aber Bananensaft hat er getrunken! Wir hatten einen Steckbrief bekommen, da stand, was er mag.

Unser Sohn Anton ist sehr schwierig mit dem Essen, und Mustafa hat irgendwann gesehen, selbst Anton isst Brot. Da hat er auch angefangen, Brot mit Geflügelwurst zu essen. Trockenes Brot, Butter mag er nicht, mit Geflügelwurst. Jeden Abend ungefähr fünf Scheiben. Wir kaufen dauernd Geflügelwurst, im Kühlschrank stapeln sich die Packungen.

Als er kam, konnte Mustafa natürlich kein Deutsch. Aber er hat eigentlich von Anfang an verstanden, was wir von ihm wollten. Er hat uns angeguckt, und wir haben ihm gesagt, was wir wollten, wir haben auch extra gar nicht so wahnsinnig viel mit Gesten gearbeitet, sondern mehr geredet. Und dann ging es ratzfatz. Reagiert hat er von Anfang an, auch korrekt reagiert. Und er hat auch sehr schnell mit Sprechen angefangen. Am Anfang hat er mit unseren Kindern Paschtu geredet und die beiden mit ihm Deutsch, jeder hat so vor sich hin geredet, aber das funktioniert ja trotzdem. Und dann ging es sehr schnell, wir haben uns viele Wimmelbücher angeguckt, da hat er sehr schnell die wichtigen Dinge gewusst: Da ist der Dieb, da ist die Polizei, Feuerwehr, Flugzeug, Auto, alle wichtigen Vokabeln. Das haben wir im Krankenhaus den ganzen Tag gemacht, da hatte ich einen großen Stapel Wimmelbücher dabei.

Wimmelbuch

Im Krankenhaus war es so: Nach zwei Voruntersuchungen sind wir an einem Dienstag früh ins Krankenhaus. Mustafa war der zweite, der an dem Tag operiert wurde, sie operieren immer zwei Kinder am Tag, damit die zusammen in ein Zimmer kommen und ein bisschen Gesellschaft haben. Die beiden haben allerdings kein Wort miteinander geredet. Aber für mich war es nett, die andere Gastmutter dabeizuhaben, die hatte schon viel Erfahrung, das war hilfreich.

Dienstag sind wir also hin und mussten noch zwei Stunden warten. Mustafa war total klar, was ihm blüht, das wusste er in dem Moment, als wir ihm gesagt haben, dass er heute nichts essen und nichts trinken darf. Er war sehr gefasst, auch als er dort ankam. In dem Moment, als der Pfleger reinkam, um das Bett zu holen, gefror sein Gesicht. Ich bin dann noch mit runter zum OP, und habe ihn da übergeben. Wenn die Ärzte da rauskommen, in ihrer ganzen Montur, mit Mundschutz und allem … dann steht man da und … sieht ihn noch so wegfahren …

Gesas Hände

Diese zweieinhalb Stunden, bis endlich der Anruf kam, er ist fertig, die waren schon heftig. Ich dachte, ich kann dann bald zu ihm, aber dann musste ich nochmal drei Stunden warten, bis ich auf die Intensivstation konnte. Da lag er dann, in einem Raum mit dem anderen Jungen, und war am Bett festgeschnallt. Ich habe vierzehn Schläuche gezählt. Klar, man weiß, was einen erwartet, wenn man auf die Intensivstation geht, aber dann siehst du das! Und dabei war es nicht mal mein Kind, ich kannte ihn gerade mal zwei Wochen. Die Vorstellung, dass es dein eigenes Kind wäre, ist ganz gruselig.

Als er aufgewacht ist, hat er als erstes gesagt: Banane? Für Bananensaft. Wenn die Kinder aufwachen, haben sie unheimlich Durst, sie dürfen aber nichts trinken, weil sie durch die OP noch zu viel Wasser im Körper haben. Da müssen sie erstmal entwässert werden, er war auch tatsächlich ziemlich aufgedunsen. Aber er hatte halt trotzdem einen Mordsdurst. Er durfte aus einer Schnabeltasse mal drei Schluck trinken, aber dann musste man es ihm wieder wegnehmen. Das war ein bisschen grausam. Und Bananensaft war natürlich auch nicht drin.
Ich saß den ganzen Tag neben ihm, auch am zweiten Tag, und wir haben ganz viele Bücher angeguckt. Ein Buch angeguckt, und dann wieder eine halbe Stunde geschlafen. Er hat natürlich auch Beruhigungsmittel und Schmerzmittel bekommen, das hat man auch gemerkt. Er hat auch immer wieder aua, aua, aua gesagt. Und dann ging es wieder. Und dann wieder aua, aua.

Hände

Den ganzen Mittwoch war er noch auf der Intensivstation, am Donnerstagvormittag kam er zusammen mit dem anderen Jungen auf die normale, und da ist er dann auch schon das erste Mal zwei Schritte gegangen. In der Nacht habe ich dort geschlafen, und die andere Gastmutter ist nach Hause gegangen. In der zweiten Nacht anderherum. Wir hatten ein richtig schönes, großes Zimmer. Das ist schon ganz gut, wenn man sich da den ganzen Tag aufhalten muss. Ab und zu hat Mustafa ein bisschen ferngesehen, aber nicht viel. Ansonsten haben wir den ganzen Tag Bücher angeguckt. Als er dann gehen konnte, sind wir mal über den Flur, zur Toilette, zurück … Sie hatten ihm eine Art Tasche umgehängt, wo laufend die Herzfrequenz gemessen wird. Sobald man die Station verlässt – wir wollten nur bis zum Eingangsbereich, wo man runtergucken kann, da ist man zwei Meter von der Tür entfernt – dann fängt das an zu piepsen, weil es keine Verbindung mehr hat. Aber irgendwie muss man die Kinder ja beschäftigen.

Am Anfang sind die beiden Jungs so gebückt gegangen, wie alte Männer, weil sie halt vorne an der Brust die Naht hatten, aber sobald dieser Beutel weg war mit den ganzen Kabelagen, hat sich das sofort gelegt. Es ging dann wahnsinnig schnell, Samstag konnten wir schon wieder nach Hause. Dienstag die Operation, Donnerstag auf die normale Station, Samstag nach Hause.

Mustafa und Alma

Als er dann wieder hier zu Hause war, haben wir noch eine Woche gewartet, und dann ist er in den Kindergarten gekommen. Und dann war sowieso kein Halten mehr. Kindergarten fand er sofort total super. Andi, mein Mann, ist erstmal eine halbe Stunde mit dageblieben – man kennt das ja, Eingewöhnung und so – aber das war gar nicht nötig. Anton ist ja auch dort. Wir hören das auch von anderen Kindern in anderen Gastfamilien. Du schickst sie dahin, und alles ist gut. Sie werden wohl in Afghanistan viel weniger behütet als hier, die haben nicht so eine Angst.

Es heißt, Mustafa sollte in Afghanistan in die Schule kommen, aber sie haben ihn zurückgestellt bis nach der Operation. Das ist natürlich schön zu wissen. Er ist auch durchaus wissbegierig. Vorhin kam der Postbote und brachte Post für ihn und meinte, er soll mal unterschreiben, auf diesem Ding da. Er hat immerhin ein M und ein A gemacht! Und zwar von links nach rechts. Am Anfang habe ich ihm ein paarmal „MUSTAFA“ aufgeschrieben, da fing er natürlich immer von hinten an, beim A. Auch beim Bücherangucken war es am Anfang so, dass er sie immer hinten aufschlug.

Wir hatten vorher gehört, dass manche Kinder auch gar keine Toiletten kennen, dass man ihnen erst beibringen muss, dass sie nicht in den Garten gehen sollen, wenn sie müssen. Aber das kannte Mustafa alles, er konnte die Toilette benutzen und wusste, wie man sich die Zähne putzt.

Wenn er wieder wegfährt … das wird auch schwer. Andererseits reicht es jetzt auch, und ich habe ein gutes Gefühl, ihn zurückzuschicken. Es ist natürlich in Afghanistan, und auch in der Gegend, aus der er kommt, nicht harmlos, da kann einem durchaus was passieren. Die Lage ist im Moment so, dass die von der Albertinenstiftung gesagt haben, sie wollen nicht, dass die Kinder von Leuten zurückgebracht werden, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben, weil die da am meisten zu befürchten haben. Das ist schon heftig.

Viele Gastfamilien schaffen es, hinterher noch Kontakt zu halten und gelegentlich zu telefonieren. Wobei die Kinder ihr Deutsch natürlich auch schnell wieder verlernen. Dann beschränkt sich das wohl auf Hallo und Tschüss. Es gibt auch welche, die danach gar keinen Kontakt haben. Der Kontakt der Gastmutter von Razia aus diesem NDR-Bericht zum Beispiel ist abgebrochen. Ob das nun am Kind liegt, oder an der Familie, weiß man nicht. Aber die Herzbrücke versucht auch, mit den Familien in Kontakt zu bleiben. Inzwischen haben sie insgesamt 117 Kinder operiert, und eigentlich wissen sie bei allen Kindern, was aus ihnen geworden ist. Teilweise waren sie auf der deutschen Schule oder haben bei der deutschen Botschaft Jobs bekommen oder so. Nur, weil sie als kleine Kinder mal hier waren. Das scheint schon nachzuwirken.

Mustafa und Alma

Aber für Anton wird es schwer. Anton ist vier, Alma wird im August sechs. Anton und Mustafa verbringen wirklich Tag und Nacht miteinander. Wir hatten eigentlich gedacht, dass Alma und Mustafa mehr miteinander machen würden, und hatten ursprünglich geplant, dass er mit ihr in die Vorschule geht. Die Vorschullehrerin wollte es dann aber doch nicht, und wir fanden auch, dass es mit Anton besser hinhaut. Die beiden spielen so großartig miteinander. Mustafa ist schon mehr fürs Toben zu haben als fürs Stillsitzen. Außer in der Sandkiste. Anton wird es sehr schwer fallen, wenn er abreist. Wir sprechen natürlich darüber, dass der Tag näher rückt. Wir haben auch vorher drüber gesprochen, bevor Mustafa kam. Da hatten wir einen Tagesfresser, den wir jeden Tag ein Stück weitergezogen haben. Bei dreiundvierzig Tagen haben wir angefangen, als wir es den Kindern gesagt haben. Wir wussten es ja schon länger. Und jetzt fragen sie auch jeden Tag: wie oft noch schlafen, wie lange ist er noch da, und so weiter.

Mustafa und Anton

Mustafa äußert sich gar nicht recht dazu, wie er es findet, wieder zurückzufahren. Ich weiß von anderen Kindern, die jetzt hier sind, dass sie gerne länger bleiben möchten und sagen: noch nicht. Aber ich glaube schon, dass Mustafa gerne wieder nach Hause geht. Er sagt aber weder in die eine noch in die andere Richtung etwas. Ob er beim Abschied traurig sein wird, weiß ich gar nicht. Ich glaube aber schon, dass er sich auf zu Hause freut.
Am Anfang, wenn er geweint hat, hat er immer gesagt, dass er seinen Vater vermisst, das hat mir eine afghanische Gastmutter übersetzt. Er ist wohl mehr auf seinen Papa fixiert, das ist bei afghanischen Jungs anscheinend immer so. Aber am Telefon hat er mehr geweint, wenn er mit seiner Mama gesprochen hat. Im Hintergrund hörte man immer die ganze restliche Familie, das war immer alles sehr laut am Telefon.
Jetzt bei uns hängt er eigentlich eher an mir als an Andi. Das kann aber auch daran liegen, dass Anton mehr an mir herumhängt.

Wir haben vorher einen Vertrag bekommen, was wir als Gasteltern beachten müssen. Das sind nur anderthalb Seiten, und es geht vor allem darum, dass wir nicht davon ausgehen sollen, dass wir dieses Kind adoptieren können. Und wir sollen dem Kind kein Schweinefleisch geben, halal muss das Essen aber nicht sein. Das sind die einzigen Regeln. Deswegen auch diese Unmengen Geflügelwurst. Es war gar nicht so leicht, Mustafa das beizubringen. Schweine kannte er aus dem Wimmelbuch. Und dann haben Freunde uns mal Schinken mitgebracht, und wir haben zu Mustafa gesagt, dass er das nicht essen kann, weil es Schwein ist. Das hat er überhaupt nicht verstanden. Da wurde mir erst bewusst, dass bei ihm wahrscheinlich auch auf der Straße keine Schweine herumlaufen. Die halten sich ja sicher keine Schweine, da kann er auch nicht wissen, dass er das nicht essen darf. Wir haben auch im Kindergarten Geflügelmortadella gebunkert, die operieren da ja sonst auch viel mit Leberwurst und so.

Er würde es natürlich nicht merken, wenn wir ihm Schweinemortadella geben würden. Aber man behält ja so einen Geschmack auch im Mund. Ich denke, wenn er dann in zwanzig Jahren mal eine Schweinemortadella essen würde, dann würde er sich erinnern und nachträglich betrogen fühlen.

Tendenziell würde ich es wieder tun, ja. Aber man braucht tatsächlich eine Weile hinterher, um das alles zu verarbeiten. Und auch erstmal wieder zur eigenen Familie zu kommen. Wir freuen uns durchaus darauf, bald wieder zu viert zu sein und unsere eigene Familie wiederzuhaben. Wir machen dieses Jahr auch gar keinen Sommerurlaub. Andi und ich fahren ein paar Tage nach Wacken und lassen die Kinder hier mit Oma und Opa allein. Aber ansonsten geht es gleich wieder in den Alltag über. Wir stellen die Zimmer um, weil Alma dann einen Schreibtisch bekommt, und dann kommt auch die Mustafa-Ecke ganz raus. Das ist bestimmt nicht schlecht.
Es ist die Regel, dass man nicht jedes Jahr ein Kind aufnimmt. Man soll immer ein Jahr aussetzen, wir kriegen jetzt also nicht Ende des Jahres das nächste Kind. Normalerweise kommen ein- bis zweimal im Jahr Kinder hierher, je nachdem, wie die Kapazitäten sind, und das Geld muss ja auch da sein.

Ich habe eine Amazonwunschliste für Mustafa angelegt, und er fährt natürlich mit einem sehr vollen Koffer zurück. Er bekommt einen alten Koffer von uns, und den packen wir voll. 30 kg darf er mitnehmen. Das werden vor allem Bücher sein, ein bisschen Sandspielzeug, das findet er ganz großartig, und so dies und das.

Ente

Was ihn besonders überrascht hat in Deutschland, waren Hunde an der Leine. Das war die allererste emotionale Reaktion, als er am zweiten Tag mit Andi einkaufen ging und einen Hund an der Leine sah. Da muss er mit offenem Mund davorgestanden und gestaunt haben, er war völlig fassungslos. Hunde anfassen ist auch so etwas, inzwischen macht er das auch, dass er mal einen Hund streichelt, aber ansonsten sind Tiere für ihn einfach nur eklig. Wir waren bei Hagenbeck, da waren wir echt überrascht, dass er die Elefanten gefüttert hat.

Malbuch

Das Tollste an der ganzen Sache ist keine einzelne Begebenheit oder so, sondern die Gesamtheit. Dass das Familienleben trotzdem weiter funktioniert hat, und er sich da eingefunden hat, als würde er dazugehören. Das ging noch schneller als gedacht. Auch als er am Anfang so viel Heimweh hatte und es dann rapide besser wurde, das ist für einen selbst natürlich auch total toll. Das Gefühl: ich kann ein Kind glücklich machen.
Für Mustafa ist das Tollste der Spielplatz. Rutschen! Das war auch bei Hagenbeck das Größte, die große Rutsche. Das sind für ihn die Highlights, die Sandkiste und Rutschen. Das ist das, was er bestimmt am meisten vermissen wird. Das findet er cool.

Abends lesen wir immer noch allen Kindern was vor, Andi und ich wechseln uns ab. Normalerweise haben wir zwei Kinder, eins rechts und eins links, in der Mitte das Buch. Jetzt zu dritt saß am Anfang immer Mustafa auf meinem bzw. auf Andis Schoß und unsere Kinder rechts und links, und nach einer Weile war er dann integriert genug und wir haben beschlossen abzuwechseln. Jetzt darf jeden Abend ein anderes Kind auf den Schoß. Und für Mustafa ist das beim Abendbrot schon immer ein Thema: Wer ist auf dem Schoß? Bin ich auf dem Schoß? Das ist ihm total wichtig. Er kommt auch nach dem Essen auf den Schoß, so wie unsere Kinder. Immer. Das finde ich sehr schön, dass er das von Anfang an gemacht hat. Dass man ihn auch in den Arm nehmen konnte und so. Ich hatte gedacht, dass er mehr Zeit braucht, bis er sich an eine Fremd-Mama anschmiegt. Aber er lag schon am zweiten Morgen bei uns im Bett.

Mustafa sagt auch Mama zu mir. Ich weiß allerdings nicht, wie afghanische Kinder zu ihren Müttern sagen, und man kann ihn auch nicht danach fragen, weil er es überhaupt nicht hinkriegt, einzelne Wörter zu übersetzen. Wenn man ihn fragt, wie heißt dies und das auf Paschtu, dann guckt er nur komisch und sagt: Paschtu. Und er weiß eigentlich schon, was „Paschtu“ heißt. Er weiß auch, dass „Mama“ nicht mein Name ist, sondern alle Mamas hier so heißen.

Mustafa

Alma

Seine Mutter hat ihn mit zum Flughafen begleitet, als eine der wenigen Mütter. Sie hatte eine Burka an, und seine Oma war auch mit und trug ein Kopftuch. Das hat mir eine Krankenschwester erzählt, die ihn mit geholt hat. Sie war auf der Intensivstation, das war sehr nett. Sie hat erzählt, als sie allein neben Mustafas Mutter stand, habe sein Vater eine Bewegung gemacht, sie solle mal ihren Schleier lupfen, da hat sie sich ihr mal kurz gezeigt. Und dann den Schleier aber auch gleich wieder runtergemacht. Ich weiß nicht, in wieweit sie zu Hause auch Burka trägt, oder ob das nur ist, wenn sie in die Stadt fahren, dass sie die Burka überzieht, keine Ahnung. Auch dass die Oma nur ein Kopftuch trägt, fand ich erstaunlich. Es hieß, sein Vater wäre ein typischer, sehr stolzer Paschtune, sehr aufrecht und stolz. Aber was das jetzt im Einzelnen heiß, weiß man auch nicht.

Unser Entschluss war eigentlich ganz lustig. Unsere Bekannte hatte halt jetzt schon dreimal ein Kind hier. Und als das dritte da war, habe ich die ganze Zeit gedacht, das könnten wir eigentlich auch machen. Das ist irgendwie … man hat das Gefühl, man tut etwas Gutes, ohne einfach anonym Geld zu überweisen oder so. Man kann aktiv etwas machen. Und ich dachte, das würden wir gut hinkriegen. Ich habe mich aber nicht recht getraut, es anzusprechen, weil ich dachte, Andi sagt, hallo, wir haben zwei Kinder, das reicht, vielen Dank. Und am Tag, nachdem ich das gedacht hatte, kam er und sagte: Das könnten wir doch eigentlich auch machen, oder? Da hatten wir es dann schon mal angesprochen, aber nicht wirklich ernsthaft darüber nachgedacht. Im Februar herzählte unsere Bekannte Brigitte, dass jetzt bald wieder Kinder aus Afghanistan geholt werden. Da haben wir sie gefragt, was man denn machen muss, um auch so ein Kind zu kriegen. Und sie meinte: Nichts. Mir Bescheid sagen. Am Tag danach kam der Anruf, ja, wir suchen noch eine Gastfamilie, würdet ihr das wirklich machen? Ihr würdet dann einen Jungen kriegen. Und dann ging es ratzfatz. So kam das.

Andi

Wir sind eigentlich einigermaßen blauäugig da rangegangen. Dadurch, dass Brigitte am anderen Ende der Straße wohnt und auch selbst Krankenschwester für Kinder-Notfälle ist, hatten wir weniger Angst. Brigitte kann innerhalb von zwei Minuten hier sein. Das war sehr beruhigend. Ich weiß nicht, ob ich so entspannt gewesen wäre, wenn ich das nicht gewusst hätte. Ansonsten … naja, wir kennen unsere Kinder und dachten, die werden klarkommen. Im schlimmsten Fall gibt es irgendwelche Eifersuchtsattacken, aber das kriegen wir ja hin. Sie fanden es auch im Vorwege schon total gut, sie kannten auch Razia vom letzten Jahr, die mit Alma zusammen in der Vorschule war, und beide Kinder waren total begeistert von der Idee. Deswegen haben wir es ihnen auch erst 43 Tage vorher gesagt. Und dann kamen sie jeden Tag an und haben gefragt, wie lange noch, wie lange noch? Es war ein sehr, sehr großes Thema, und wir haben natürlich viel darüber geredet, dass Mustafa am Anfang wahrscheinlich öfter bei uns auf dem Arm ist und dass er ganz viel weinen wird und dass sie Verständnis haben müssen, wenn wir ihn mehr beachten. Und dass er am Anfang auch ein bisschen langsam sein wird. Das war uns so gesagt worden, die herzkranken Kinder rennen nicht herum, und wenn sie die Treppe hochgehen, dann gehen sie vielleicht nur drei Stufen und bleiben dann stehen. Und so war er dann überhaupt nicht! Wenn wir es nicht gewusst hätten, dann hätten wir nicht gedacht, dass er krank ist. Wenn man sehr drauf geachtet hat, hat man schon gemerkt, dass er nicht so viel rennt, aber das war wirklich kaum zu merken. Anton wirft uns das immer noch vor: Wir dachten, dass er stehenbleibt auf der Treppe! Und dann ist er gar nicht stehengeblieben! Er war also sehr viel fitter, als wir das erwartet hätten.

Andi und Anton
Dadurch, dass Mustafa so fit war, würden wir wahrscheinlich beim nächsten Mal wieder genauso entspannt da rangehen und denken, so schlimm ist das alles gar nicht.

Gesa

»Wenn er wieder wegfährt … das wird auch schwer.«

 

Gesa bloggt hier.

11 Kommentare

  1. Mustafa sieht wirklich knuffig aus.

    Ansonsten haben die Organisatoren, Chirurgen, Gasteltern ect. meinen größten Respekt.

  2. Fantastisch. Danke. Für’s Machen und für’s Teilen.

  3. Toll, großartig zu lesen und eine wirklich großartige Sache. Ich ziehe den Hut!

  4. ohne Worte – einfach beeindruckend!

  5. Dieses Interview hat mich sehr berührt. Danke dafür! Vielleicht macht es ja auch anderen Mut, sich als Gasteltern zur Verfügung zu stellen.

  6. Was für ein großes Abenteuer für alle. Und ein Plätzchen im Himmel ist der mutigen und herzensguten Gastfamilie sicher :D oder modern ausgedrückt: 1.000 Karmapunkte extra! Danke für das schöne Interview.

  7. Bin durch nomadenseele auf diesen Beitrag aufmerksam gemacht worden. Konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen, so interessant war der Bericht.
    lg, Wolfgang / buchwolf

  8. Großartig, alles! Die Herzbrücke, die Familie Füßle, die Geschichte. Solche kleinen großen Lichtblicke kann man in diesen Zeiten gut gebrauchen.

  9. Wahnsinn. Sitze hier am Schreibtisch und kaue mein Mittagessen, denke so »mal sehen, was es hier auf der Seite so Neues gibt« – und dann das. Kriege mein Essen kaum runter, so einen großen Kloß habe ich im Hals. Eine sehr berührende Geschichte, vielen Dank dafür und überhaupt für dieses Projekt.
    Das ist eine wahre Bereicherung.

    Beste Grüße

  10. Wow. Einfach großartig. Wunderbar!

  11. Ich kann mich nur anschließen: Riesen-Respekt. Was für eine wunderbare Geschichte und wie toll, dass es solche Initiativen und Menschen gibt. Leider liest man zu wenig davon, aber es gibt sie, es gibt sie mehr, als wir denken und vor lauter Fake-News vergessen. Danke.

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